Currentzis: „Ich mag den naiven Hörer“
Mittwoch tritt der – trotz heftiger Kritik in Russland verbliebene – Dirigent Teodor Currentzis mit seinem neuen Ensemble Utopia in Hamburg erstmals auf. Freitag spielen sie im Wiener Konzerthaus. Politische Fragen? Sind unerwünscht.
Die Presse: Neben Ihrem in St. Petersburg beheimateten MusicAeterna leiten Sie nun Utopia, ein neues Ensemble aus 112 Musikern aus 28 Ländern. Welchen Fortschritt erhoffen Sie sich davon?
Teodor Currentzis: Utopia ist eine komplett andere Sache, da es Enthusiasten unterschiedlicher Orchester vereint. Mit ihnen soll es glücken, eine Qualität zu erreichen, die die Grenzen sprengt. Lassen Sie es mich so sagen: In jedem Orchester, auch in sehr guten, gibt es ein paar extrem gut ausgebildete Musiker, die langweilig spielen. Einfach, weil sie ihr Feuer verloren haben. Sie gehen zur Probe, als handle es sich um einen Bürojob. Und dann gibt es in jedem Orchester jene, die bis zum letzten Tag ihres professionellen Lebens für die Musik brennen. Es war schon lang mein Traum, ein Orchester zu gründen, das ausschließlich aus dieser Art von leidenschaftlichen Musikern besteht.
Warum haben Sie ausgerechnet Strawinskis „L´oiseau de feu“und Ravels „Daphnis et Chloé fragments“für die erste Konzertserie von Utopia ausgewählt?
Dieser Entscheidung gingen viele Besprechungen mit den Musikern voraus. Es ist eine sehr delikate Musik, die eine sublime Auffächerung der Klangfarben erfordert. In modernen Orchestern wird dafür meist zu wenig Zeit und Bemühung investiert. Es wird nicht versucht, neue Farben zu kreieren. Für gewöhnlich begnügt man sich mit fünf, sechs Varianten. Es sollten Hunderte, wenn nicht Tausende sein. Wir wollen die Palette entscheidend erweitern.
Worum geht es Ihnen darüber hinaus? Um Spiritualität, Wahrheit, Schönheit?
In erster Linie um die Schönheit der Harmonien. Wahrheit sucht man besser in philosophischen Diskursen. Bei uns geht es um die Resonanz der Harmonien, die Proportionen von Schönheit. Dieses Programm ist penibel orchestriert. Es war eine sehr lustvolle Erfahrung, Musiker mit disparatem Hintergrund und unterschiedlichsten Fähigkeiten in eine harmonische Linie zu bringen.
Im Jazz gibt es Spielarten, bei denen der Perfektion bewusst ausgewichen wird. Etwa, indem Musiker die Instrumente tauschen, um dann möglichst instinktiv Musik auf einem Werkzeug zu machen, das sie nicht beherrschen. Gibt es in Ihren Orchestern Platz für individuellen Instinkt?
Unbedingt. Individueller Instinkt macht eine musikalische Arbeit erst interessant.
Meine Arbeit ist es im Grunde, unterschiedliche, individuelle Instinkte zueinanderzubringen und zu schauen, welche Chemie dabei entsteht. So ein Orchester ist ein großes Laboratorium unterschiedlicher Energien und Gedankenkonzepte innerhalb derselben Idee. Das ist gelebter Pluralismus, gelebte Demokratie.
Kürzlich hat Sie ein österreichischer Musiker bezichtigt, schwarze Pädagogik zu praktizieren, um künstlerische Ziele zu erreichen. Was sagen Sie dazu?
Ich bin mit meinen Musikern befreundet, ja ich würde das Verhältnis zwischen uns sogar fast als eine Liebesaffäre beschreiben. Die häufig praktizierte Hierarchie zwischen dem Herrn Musikdirektor und seinen Untergebenen, die gibt es bei uns nicht. Die Zeit der Proben teilen wir uns einvernehmlich nach den künstlerischen Notwendigkeiten ein. Es ist mir ein Rätsel, wie dieser Herr dazu kommt, so etwas zu behaupten. War er denn jemals bei einer meiner Proben?
Kann ein Orchester tatsächlich nach demokratischen Prinzipien geleitet werden?
Ich bin aus Griechenland. Schon deshalb stehe ich immer aufseiten der Demokratie. Künstlerische Qualität kann man nicht mit Druck, sondern nur mit Liebe erreichen.
Sie werden von vielen Zuhörern geliebt, es gibt aber auch feindselige Reaktion auf Ihre Arbeit. Wie reagieren Sie darauf?
Das beunruhigt mich nicht. Das ist nur Statistik. Je mehr Menschen Sie ansprechen, desto mehr gibt es, die Ihre Arbeit nicht akzeptieren. Ich respektiere jene, die nicht mögen, was ich tue, und nicht in meine Vorstellungen kommen. Ich bin eben anders. Das wäre ich auch, würde ich Frack tragen. Was ich nicht verstehe, sind Polemiken gegen Künstler. Wenn mir etwas nicht gefällt, dann gehe ich nicht hin.
Welche Rolle spielt das Publikum bei Ihren Konzerten? Spüren Sie die Vibration der Menschen, beeinflusst Sie das?
Oh ja. Die Idee, die Barriere zwischen Bühne und Publikum zu durchbrechen, dominiert mein gesamtes Berufsleben. Mein Traum ist, dass die Imagination der Hörenden durch inspirierte Musiker auf eine Weise angefacht wird, dass dieser imaginäre eiserne Vorhang verschwindet. So ein Konzert ist eine Form von Yin/Yang.
Wer ist der ideale Hörer, der naive oder der gebildete?
Einmal so, einmal so. Ich mag den naiven Hörer, der nichts über das jeweilige Stück weiß. Ich komponiere ja selbst und möchte nicht, dass das Publikum über die Umstände der Entstehung eines Stücks Bescheid weiß. Das ist einfach nicht erforderlich. Andererseits gibt es Musik, die so hermetisch ist, dass eine Vorbereitung sinnvoll ist. Um eine Oper von Wagner richtig auskosten zu können, braucht es schon gewisse Kenntnisse, sonst wird es womöglich langweilig.
Geht es in der Klassik nur darum, die Regeln zu befolgen, oder ist deren Verletzung zuweilen auch Gebot?
In der Klassik sind es die Komponisten, die zuweilen damit spielen. Subito forte und subito sforzando verletzen etwa die harmonischen Regeln. Meine Arbeit ist es, die Intention des Komponisten zu verstärken.
Gibt es in Ihrem Leben Tage ohne Musik?
Nein. In meiner freien Zeit komponiere ich. Das ist mein Paradies. Ich komponiere sehr sanfte Texturen, es ist eine Musik, die nah an der Stille ist. Vollkommene Stille gibt es ja nicht. Ich war einmal in so einem total isolierten Raum in Paris. Das Erlebnis ist beängstigend. Stille ist gleichfalls eine Utopie.
In Krisenzeiten befragt man gern die Kunst. Was kann Musik da leisten?
Musik ist generell etwas für schwierige Zeiten. Sie tröstet, sie ermutigt, sie richtet auf.
Wenn Sie sich an Ihre Ziele als Musikstudent erinnern, sind Sie dann mit dem Erreichten zufrieden?
Nein. Ich bleibe ein ewiger Student. Es ist die harte Arbeit, die mein Feuer nährt. Nur nicht mein eigenes Denkmal werden. Mein Traum entwickelt sich immer noch weiter.