Mit Balenciaga-Sneakers im Kunstschlamm stecken bleiben
Der spanische Künstler Santiago Sierra, einst hart und kompromisslos, lieferte jetzt die Betroffenheitskulisse für den Verkauf dunkler Luxusmode.
Ach wie dystopisch ist so ein Luxuslabelleben.
Shock Jock Art“, diesen Begriff für Kunst muss man googeln: Gemeint ist eine, die provozierend unterhalten will. Das Label ist nicht nett gemeint. Es bezog sich auf den spanischen Künstler Santiago Sierra, der 2021 beim Dark Mofo Art Festival in Australien – Nitsch-geeicht – indigene Einwohner zur Blutspende aufrief. Um damit eine englische Fahne zu tränken. Woran Indigene derart heftige Kritik übten – es sei „genug indigenes Blut geflossen“, noch dazu auf
Wunsch eines Künstlers aus einer Kolonialmacht –, dass die Aktion vom Festival abgesagt wurde. Man hätte auch kein Blut spenden können.
Jetzt bringt der Härteste unter den Provokateuren der Gegenwartskunst (was nicht allzu schwer ist) erneut die Instagram-Feeds der Kunstszene zum Kochen. Lieferte er doch die Kulisse für die Modenschau der derzeit einflussreichsten Luxusmarke, Balenciaga, mit der am Montag die Pariser Fashionweek eröffnete. Beziehungsweise: Er schüttete sie auf. Tonnen von Schlamm häufte er zu einer massiven „dystopischen Landschaft“, wie das immer so zivilisiert heißt. Models und Publikum mussten kräftig stapfen, Letztere zu „komfortablen Sitzen“, wie ein Kommentator süffisant anmerkte. Die Grenze zwischen Authentizität und Zynismus ist in der Kunst eben eine fein (an)gezogene.
Darf ein dezidiert kapitalismuskritischer Künstler wie Sierra ein solches Engagement also annehmen? Natürlich! Es passt sogar hervorragend in sein Werk. Nicht nur, dass er mit der Schlammpracht eine alte Arbeit wiederholt hat – wer von der Fashioncrowd war 2005 schon in der Kestnergesellschaft Hannover? Wo Sierra mit denselben Tonnen an Schlamm ans sinnlose Ausheben eines Sees in den Dreißigerjahren erinnern wollte. Die Besucher bekamen dort für die Vergangenheitsbewältigung zumindest Gummistiefel bereitgestellt.
In seinen starken frühen, ganz schlichten Arbeiten ließ Sierra kubanischen Drogensüchtigen eine „Line“auf den Rücken tätowieren. Für wenig Geld. Männer masturbieren. Für wenig Geld. Afrikanische Migranten an Spaniens Küste Gräber ausheben. Für wenig Geld. Es ging Sierra um die Prostitution der Würde des Menschen im Kapitalismus. Jetzt nahm er anscheinend sich selbst als Beispiel. Wenn er fürs Imperium von Kunstmäzen Pinault, für den derzeit schicksten Designer, Demna Gvasali, die Betroffenheitskulisse für den Verkauf dunkler Luxusmode in Krisenzeiten bastelt. Um viel Geld. Ist anzunehmen.