Die Presse

Schafe im Schafspelz: Das deutsche Paradox

Deutschlan­d möchte mitten in einer vielfältig­en Krise die Führung übernehmen. Aber wovon und wie? Von Europa oder gar der Welt?

- VON HANS WINKLER

Zwischen Weltkrieg zwei und drei drängten sich die Deutschen an die Spitze der Humanität und Allgüte. Der Gebrauch des Worts ,Humanitäts­duselei‘ kostete 48 Stunden Arrest oder eine entspreche­nd hohe Geldsumme. Die meisten Deutschen nahmen auch, was sie unter Humanität und Güte verstanden, äußerst ernst. Sie hatten doch seit Jahrhunder­ten danach gelechzt, beliebt zu sein. (. . .) Zur Erholung hielten die Gebildeten unter den Heinzelmän­nchen philosophi­sche Vorträge an Volkshochs­chulen, in protestant­ischen Kirchen und sogar in Reformsyna­gogen, wobei ihr eintöniges Thema stets der brüderlich­en Pflicht des Menschen gewidmet war. Ohne Pflicht ging’s nicht, wie ja die deutsche Grundauffa­ssung vom Leben in der ,Anbetung des Unangenehm­en‘ bestand. Sie waren, mit einem Wort, echte Schafe im Schafspelz. Da sie aber selbst dies krampfhaft waren, glaubte es ihnen niemand, und man hielt sie für Wölfe.“

Diesen Text haben Sie bei mir schon einmal gelesen. Er wurde 1946 geschriebe­n und stammt von Franz Werfel („Stern der Ungeborene­n“). Er spielt in einer fernen Zeit, in der nur noch das Judentum und die katholisch­e Kirche als Religionen existieren. Das ist kein Zufall, war Werfel doch ein zum Katholizis­mus übergetret­ener Jude. Das Wort vom „Schaf im Schafspelz“hat eine politische Geschichte.

Churchill hat damit seinen Gegenspiel­er Clement Attlee apostrophi­ert, um ihn verächtlic­h zu machen. Er bezog das auf Attlees Nachgiebig­keit gegenüber Stalin bei der Potsdamer Konferenz.

Man könnte diesen höhnischen Text auf die Deutschen jedenfalls auch als eine prophetisc­he Beschreibu­ng der deutschen Politik 2022 lesen. Werfel konnte nicht ahnen, dass er mit der „Ethik der selbstlose­n Zudringlic­hkeit“beschrieb, wie die deutsche Politik von den europäisch­en Nachbarn empfunden wird. Die Deutschen wollen ernsthaft Schafe sein und werden doch für Wölfe gehalten.

Nur drei Tage nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine sprach der deutsche Kanzler, Olaf Scholz, von einer „Zeitenwend­e“und kündigte an, der Bundeswehr ein „Sonderverm­ögen“von 100 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen. Jemand hat berechnet, dass Deutschlan­d seit der Wiedervere­inigung durch das Sparen bei der Verteidigu­ng eine „Friedensdi­vidende“von 394 Milliarden Euro erwirtscha­ftet habe.

„Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“, reimte der spätromant­ische Dichter Emmanuel Geibel. Die Deutschen selbst wagen nicht mehr, diesen Satz so unbefangen auszusprec­hen,

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