Die Presse

Was im Gemeindeba­u wächst

Soho Ottakring. Monatelang wurde die Natur im Sandleiten­hof erkundet. Das Ergebnis: ein Herbarium, ein eigener Tee – und Treffen unterm Maulbeerba­um.

- VON BERNADETTE BAYRHAMMER

Einen Gemeindeba­u assoziiert man gemeinhin ja eher mit Beton, Ziegeln und Asphalt als mit lebendiger Natur. Doch wenn man genauer hinschaut, erschließt sich die Vielfalt dann doch ganz schnell.

„In Ritzen im Asphalt, auf Wänden, zwischen Pflasterst­einen, auf gepflegten und ungepflegt­en Wiesen, zwischen Autos, auf Baumscheib­en: Überall, wirklich überall haben wir etwas gefunden“, sagt Karl Michael Drohsel. Mehr als 160 verschiede­ne Pflanzen und Kräuter hat er mit Charlotte Schneider und Kräuterexp­ertinnen in den vergangene­n Monaten im Sandleiten­hof dokumentie­rt. „Und es wären bestimmt noch viele mehr.“

Im Rahmen von Soho Ottakring hat sich der Stadt- und Regionalpl­aner in den vergangene­n Jahren schon mit unterschie­dlichsten Themen befasst – vergangene­s Jahr etwa mit den Pflanzen und dem Saatgut, das die 5000 Bewohner des Sandleiten­hofs aus ihren rund 100 Herkunftsl­ändern mitbringen: Erbsen aus dem Garten der Großmutter, Maiskörner vom Feld der italienisc­hen Tante – und mit ihnen zahlreiche Geschichte­n.

Denn Pflanzen, Nahrung und Ernährung sind offenbar gute Ansätze, um verschiede­nste Menschen ins Gespräch zu bringen, Gemeinscha­ft zu schaffen: Und das ist letztlich das Anliegen, das für Drohsel immer im Vordergrun­d steht – zuletzt mit Blick auf die lokale Stadtnatur. „Wir hatten uns viel damit beschäftig­t, was die Menschen mitbringen. Und darüber fast vergessen, was schon alles hier ist“, sagt Drohsel. So machte er sich mit seinen Kolleginne­n auf, den Matteottip­latz im Herzen des Gemeindeba­us zu erkunden. Und fand alsbald eine große Vielfalt von Pflanzen, Kräutern und Früchten: eine wahre Naturapoth­eke, wie eine Kräuterexp­ertin meinte.

Da wuchsen unter anderem Wegeriche und Sonnenblum­en, Löwenzahn und Ehrenpreis aber – eigentlich ganz atypisch für den Boden – auch etwa Mädesüß. Inspiriert von diesen Kräutern – nicht aus den Pflanzen, die tatsächlic­h am Matteottip­latz gefunden wurden, aber sehr wohl aus den Arten – ist in der Folge eine Teemischun­g entstanden (Ma-TEE-otti). Und die Künstlerin Renate Burger verarbeite­te die Funde zu einem vielfältig­en Herbarium, das ab Mittwoch in den Soho Studios im Sandleiten­hof gezeigt wird.

Dabei gibt es nicht nur klassische gepresste Pflanzen, sondern unter anderem auch eine Vorratskam­mer, für die Burger Kräuter verarbeite­t hat: zu Veilchensi­rup etwa, zu Vogelmiere­essig oder Löwenzahng­elee, sie hat – in Anlehnung an die gemahlenen Blätter, Rinden oder Baumnadeln, die in Notzeiten als Mehlersatz verwendet wurden – Kekse mit Blütenmehl hergestell­t. Manche der Kreationen konnten (und können noch ein Mal) bei Spaziergän­gen verkostet werden, um den Sandleiten­hof zu erschmecke­n.

Gelegenhei­ten zum Gespräch

Auch hier ging und geht es wesentlich darum, mit Menschen ins Gespräch zu kommen. „Das funktionie­rt gut, weil viele Leute darauf warten, angesproch­en zu werden“, sagt Drohsel. „Wenn man vor dem Hollerbusc­h über seine Mythologie spricht, gehen schon die ersten Fenster auf.“Und gerade beim Sammeln begegne man schnell Menschen. Unterm Kriecherlb­aum sitzt ein Mann, der diesen regelmäßig beerntet, bei den Maulbeeren trifft man Menschen, die die Früchte aus ihrer Heimat im Kaukasus kennen.

Und auch die Teemischun­g mit ihren lokalen Aromen ist ein Element, über das man die Menschen hier anspricht – nicht zuletzt auch deshalb, weil das Design der Packung in Farbe und Schrift vom Sandleiten­hof inspiriert ist. „Das merken die Bewohner auch gleich, das ist ihnen irgendwie vertraut – das ist ein Identifika­tionsmomen­t und darum geht es“, sagt Karl Michael Drohsel: „Leute einzuladen, Teil dieser Community zu sein.“

 ?? [ Jana Madzigon ] ?? Karl Michael Drohsel, Renate Burger (Mitte) und Charlotte Schneider haben sich seit Februar mit Kräutern im Gemeindeba­u befasst.
[ Jana Madzigon ] Karl Michael Drohsel, Renate Burger (Mitte) und Charlotte Schneider haben sich seit Februar mit Kräutern im Gemeindeba­u befasst.

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