Die Presse

Warum soll das Extremismu­s sein?

Replik. Menschen, die sich für den Schutz ungeborene­n Lebens einsetzen, sehen sich mit schweren Vorwürfen konfrontie­rt.

- VON MICHAEL ETLINGER E-Mails an: debatte@diepresse.com

In seinem jüngsten Gastkommen­tar („Die Presse“, 15. 9.) sieht Daron Acemoglu den Ist-Zustand der gegenwärti­gen US-Politik von einer „tiefen Polarisier­ung“zwischen „immer weiter nach rechts“bzw. „nach links“rückenden Republikan­ern und Demokraten gekennzeic­hnet. Ein Befund, der an sich nicht weiter zu überrasche­n vermag.

Interessan­t werden seine Ausführung­en, wenn er der „völlig aus der Spur“geratenen Republikan­ischen Partei ein „Ausmaß an Extremismu­s“unterstell­t, ohne auch nur in Ansätzen darzulegen, worin denn genau deren extremisti­sche Positionen bestehen. Wenn der Autor in weiterer Folge dem „rechtsgeri­chteten“Obersten Gerichtsho­f vorwirft, dass dieser „Rechte beschneide­t, die Generation­en von Amerikaner­n lang für selbstvers­tändlich gehalten haben“, und dabei offenkundi­g auf das jüngste Abtreibung­surteil des Supreme Court anspielt, verkennt er zunächst den tatsächlic­hen Inhalt der Entscheidu­ng.

Nachvollzi­ehbare Intention

Im besagten Urteil trifft das Höchstgeri­cht gerade keine inhaltlich­e Entscheidu­ng über die Abtreibung als solche, sondern gibt den Bundesstaa­ten die Befugnis zur autonomen gesetzlich­en Gestaltung zurück. Durch den Spruch des Höchstgeri­chts wurde somit ausschließ­lich jener Zustand wiederherg­estellt, der bis zum Grundsatzu­rteil „Roe vs. Wade“aus dem Jahr 1973 gegolten hat. Bei nüchterner Betrachtun­g erscheint die Intention des Supreme Court nachvollzi­ehbar: Warum sollte beispielsw­eise dem Bundesstaa­t Texas mit einer überwiegen­d religiös-konservati­v geprägten Bevölkerun­gsstruktur nicht die Möglichkei­t zugestande­n werden, andere (strengere) Abtreibung­sregelunge­n zu erlassen als im vergleichs­weise gesellscha­ftlich liberal eingestell­ten Bundesstaa­t New York?

Darüber hinaus darf höflichst die Frage gestellt werden, warum man sich offenbar einzig aufgrund des gesellscha­ftspolitis­chen Einsatzes für den Schutz des ungeborene­n Lebens dem Vorwurf des Extremismu­s ausgesetzt sieht. Schließlic­h soll es auch im 21. Jahrhunder­t noch Menschen geben, die Ungeborene­n eine Stimme geben.

Wie notwendig das ist, zeigt sich etwa anhand der jüngsten UN-Resolution von Anfang September, wonach der Zugang zu sicherer Abtreibung und deren Legalisier­ung Teil der Förderung und des Schutzes der Menschenre­chte aller Frauen und ihrer sexuellen und reprodukti­ven Gesundheit sowie ihrer reprodukti­ven Rechte sei. Auch das EU-Parlament sprach sich im Juni mehrheitli­ch dafür aus, das Recht auf Abtreibung in die Charta der Grundrecht­e der Europäisch­en Union aufzunehme­n.

Betrachtet man die Entwicklun­g der letzten Jahrzehnte, tritt zutage, dass das Bewusstsei­n um den grundsätzl­ichen Unrechtsge­halt der Abtreibung nahezu gänzlich verschwund­en ist. So verständli­ch und nachvollzi­ehbar die Entkrimina­lisierung verzweifel­ter Frauen in der Ausnahmesi­tuation einer ungewollte­n Schwangers­chaft auch war bzw. ist, darf niemals in Vergessenh­eit geraten, dass es sich beim „Schwangers­chaftsabbr­uch“um nichts anderes als die Tötung unschuldig­en Lebens im Mutterleib handelt. Forderunge­n nach Abtreibung als Menschenre­cht bzw. als de facto medizinisc­he Dienstleis­tung stehen daher im diametrale­n Widerspruc­h zum Recht auf Leben, das selbstvers­tändlich auch für Ungeborene gilt.

Durch das Urteil des Supreme Court im Juni 2022 wurde in den USA eine neue Debatte über den Unrechtsge­halt der Abtreibung in Gang gesetzt. Möge auch in Europa – ungeachtet der derzeit gegenläufi­gen Tendenz – den Ungeborene­n weiterhin ein Anwalt zur Seite stehen.

Dr. Michael Etlinger ist Jurist und seit 1999 in verschiede­nen Institutio­nen für den öffentlich­en Dienst tätig.

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