Warum soll das Extremismus sein?
Replik. Menschen, die sich für den Schutz ungeborenen Lebens einsetzen, sehen sich mit schweren Vorwürfen konfrontiert.
In seinem jüngsten Gastkommentar („Die Presse“, 15. 9.) sieht Daron Acemoglu den Ist-Zustand der gegenwärtigen US-Politik von einer „tiefen Polarisierung“zwischen „immer weiter nach rechts“bzw. „nach links“rückenden Republikanern und Demokraten gekennzeichnet. Ein Befund, der an sich nicht weiter zu überraschen vermag.
Interessant werden seine Ausführungen, wenn er der „völlig aus der Spur“geratenen Republikanischen Partei ein „Ausmaß an Extremismus“unterstellt, ohne auch nur in Ansätzen darzulegen, worin denn genau deren extremistische Positionen bestehen. Wenn der Autor in weiterer Folge dem „rechtsgerichteten“Obersten Gerichtshof vorwirft, dass dieser „Rechte beschneidet, die Generationen von Amerikanern lang für selbstverständlich gehalten haben“, und dabei offenkundig auf das jüngste Abtreibungsurteil des Supreme Court anspielt, verkennt er zunächst den tatsächlichen Inhalt der Entscheidung.
Nachvollziehbare Intention
Im besagten Urteil trifft das Höchstgericht gerade keine inhaltliche Entscheidung über die Abtreibung als solche, sondern gibt den Bundesstaaten die Befugnis zur autonomen gesetzlichen Gestaltung zurück. Durch den Spruch des Höchstgerichts wurde somit ausschließlich jener Zustand wiederhergestellt, der bis zum Grundsatzurteil „Roe vs. Wade“aus dem Jahr 1973 gegolten hat. Bei nüchterner Betrachtung erscheint die Intention des Supreme Court nachvollziehbar: Warum sollte beispielsweise dem Bundesstaat Texas mit einer überwiegend religiös-konservativ geprägten Bevölkerungsstruktur nicht die Möglichkeit zugestanden werden, andere (strengere) Abtreibungsregelungen zu erlassen als im vergleichsweise gesellschaftlich liberal eingestellten Bundesstaat New York?
Darüber hinaus darf höflichst die Frage gestellt werden, warum man sich offenbar einzig aufgrund des gesellschaftspolitischen Einsatzes für den Schutz des ungeborenen Lebens dem Vorwurf des Extremismus ausgesetzt sieht. Schließlich soll es auch im 21. Jahrhundert noch Menschen geben, die Ungeborenen eine Stimme geben.
Wie notwendig das ist, zeigt sich etwa anhand der jüngsten UN-Resolution von Anfang September, wonach der Zugang zu sicherer Abtreibung und deren Legalisierung Teil der Förderung und des Schutzes der Menschenrechte aller Frauen und ihrer sexuellen und reproduktiven Gesundheit sowie ihrer reproduktiven Rechte sei. Auch das EU-Parlament sprach sich im Juni mehrheitlich dafür aus, das Recht auf Abtreibung in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufzunehmen.
Betrachtet man die Entwicklung der letzten Jahrzehnte, tritt zutage, dass das Bewusstsein um den grundsätzlichen Unrechtsgehalt der Abtreibung nahezu gänzlich verschwunden ist. So verständlich und nachvollziehbar die Entkriminalisierung verzweifelter Frauen in der Ausnahmesituation einer ungewollten Schwangerschaft auch war bzw. ist, darf niemals in Vergessenheit geraten, dass es sich beim „Schwangerschaftsabbruch“um nichts anderes als die Tötung unschuldigen Lebens im Mutterleib handelt. Forderungen nach Abtreibung als Menschenrecht bzw. als de facto medizinische Dienstleistung stehen daher im diametralen Widerspruch zum Recht auf Leben, das selbstverständlich auch für Ungeborene gilt.
Durch das Urteil des Supreme Court im Juni 2022 wurde in den USA eine neue Debatte über den Unrechtsgehalt der Abtreibung in Gang gesetzt. Möge auch in Europa – ungeachtet der derzeit gegenläufigen Tendenz – den Ungeborenen weiterhin ein Anwalt zur Seite stehen.
Dr. Michael Etlinger ist Jurist und seit 1999 in verschiedenen Institutionen für den öffentlichen Dienst tätig.