Eskalation im Streit um Migranten
Die Asylzahlen steigen, doch Rom verfolgt eine rigorose Migrationspolitik – sehr zum Ärger einiger EU-Partnerländer.
Wien/Rom/Paris/Brüssel. Die Situation erinnert beschämend an die große Flüchtlingskrise des Jahres 2015 – und sie zeigt auf fatale Weise, dass sich in der EU-Migrationspolitik seither praktisch nichts geändert hat: Zwischen Paris und Rom eskaliert ein Streit um die Landeerlaubnis des Rettungsschiffs Ocean Viking der französischen NGO SOS Mediterranée. Nachdem Italien sich wochenlang geweigert hatte, den nächstgelegenen Hafen auf Sizilien zuzuweisen, traf das Schiff am gestrigen Freitag im französischen Toulon ein. Neun EU-Länder haben zugesagt, zwei Drittel der 234 Menschen an Bord aufzunehmen. Österreich ist nicht darunter.
Frankreichs Innenminister, Gérald Darmanin, bezeichnete die Weigerung Italiens, die Ocean Viking anlaufen zu lassen, als „unverständlich“. Am Freitag konterte die neue italienische Regierungschefin, Giorgia Meloni: Für die „aggressive Reaktion“aus Paris habe sie keinerlei Verständnis, so die Chefin der rechtspopulistischen Fratelli d’Italia. „Italien hat seit Anfang dieses Jahres 90.000 Migranten landen lassen.“Das europäische Umverteilungssystem aber funktioniere nach wie vor nicht. In diesem Jahr seien lediglich 117 Menschen von anderen EU-Ländern aufgenommen worden, darunter 38 von Frankreich.
Rom beugte sich Druck
Auch anderen NGO-Schiffen hatte die Regierung in Rom zuletzt untersagt, einen italienischen Hafen anzusteuern – darunter der Humanity 1, die unter deutscher Flagge fährt. Dem Druck aus Berlin und Brüssel hat sich die Regierungschefin schließlich gebeugt und die Migranten an Land gehen lassen. Nun bleibt abzuwarten, wie Meloni künftig auf das Anlegen der Seenotrettungsschiffe reagieren wird, denn die ersten von ihnen sind schon erneut ins Mittelmeer aufgebrochen, um weitere Rettungsaktionen durchzuführen.
Wahrscheinlich wird Meloni erneut versuchen, viel Druck um das Thema aufzubauen, damit die Migrationspolitik in der EU trotz der multiplen Krisenlage wieder auf die Tagesordnung gesetzt wird. Auch andere Länder fordern dies nach Vorlage der jüngsten Asylzahlen vom August, die so hoch sind wie seit sieben Jahren nicht. Meloni will die Migration über das Mittelmeer stoppen, indem die Abfahrten in Nordafrika unterbunden werden und der Asylanspruch der Menschen vor der Überfahrt in sogenannten Hotspots geprüft wird. Neu ist daran allerdings wenig. Was Meloni als ihren Vorschlag verkauft, ist eine alte Idee, die schon in der Vergangenheit nicht erfolgreich umgesetzt worden ist. Angefangen bei den Hotspots in Nordafrika: Schon 2016 hat der damalige Ministerpräsident Matteo Renzi von dem sozialdemokratischen Partito Democratico vorgeschlagen, die EU-Grenzen effektiver zu schützen und Asylverfahren in von der EU finanzierten Auffanglagern in Afrika durchzuführen. Als dieser Vorschlag in der EU nicht vorankam, setzte Renzi einen Teil in Eigenregie um: Sein Innenminister, Marco Minniti, schloss mit der libyschen Küstenwache einen Deal, damit diese die Überfahrten der Migranten nach Italien verhindern – mit teilweise brutalen Methoden.
Deal mit Libyen
Bis heute steht die italienische Regierung dafür in der Kritik, dass mit ihrem Geld in Libyen Lager finanziert würden, in denen die Migranten festgehalten und zum Teil gefoltert werden. Die Zahl der Überfahrten verringerte sich in der Folge merklich: Waren 2016 noch über 181.000 Migranten über das Mittelmeer nach Italien gekommen, waren es 2018 nur noch 23.000 gewesen. Nach einem Regierungswechsel übernahm der Rechtspopulist Matteo Salvini das Innenministerium und propagierte von dort seine Politik der „geschlossenen Häfen“: Salvini untersagte NGO-Schiffen mit Migranten an Bord so lang das Anlegen, bis andere EU-Länder sich zur Aufnahme der Menschen bereit erklärten. Heute bezahlt Salvini den Preis für diese Entscheidungen:
Gegen ihn läuft ein Prozess wegen der Unterlassung von Amtshandlungen und Entführung, weil er die Migranten an Bord eines Schiffs festhielt.
Doch eines blieb über all diese Jahre gleich: Der Druck, den Italien auf die EU ausübt, dient vor allem der Show. Denn während der Großteil der Migranten, der über das Mittelmeer in die EU gelangt, in Italien anlandet, bleibt nur ein verschwindend geringer Anteil dort. Insgesamt leben in Italien im EU-Vergleich gemessen an der Bevölkerung nur wenige Migranten mit anerkanntem Asylanspruch: So entsprach die Anzahl der Flüchtlinge, die 2021 in Italien lebten, 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung. In Deutschland waren es 1,5 Prozent, in Schweden 2,3 Prozent. Gleichermaßen bringt auch der Krieg gegen die NGO-Schiffe mehr Show als Substanz: Während Meloni Anfang November den 1134 Migranten an Bord mehrerer NGO-Schiffe medienwirksam untersagte, an Land zu gehen, kamen zeitgleich 9801 Migranten auf anderen Wegen an – in eigenen Booten oder gerettet von anderen Schiffen.