Die Presse

Eskalation im Streit um Migranten

Die Asylzahlen steigen, doch Rom verfolgt eine rigorose Migrations­politik – sehr zum Ärger einiger EU-Partnerlän­der.

- VON VIRGINIA KIRST UND ANNA GABRIEL

Wien/Rom/Paris/Brüssel. Die Situation erinnert beschämend an die große Flüchtling­skrise des Jahres 2015 – und sie zeigt auf fatale Weise, dass sich in der EU-Migrations­politik seither praktisch nichts geändert hat: Zwischen Paris und Rom eskaliert ein Streit um die Landeerlau­bnis des Rettungssc­hiffs Ocean Viking der französisc­hen NGO SOS Mediterran­ée. Nachdem Italien sich wochenlang geweigert hatte, den nächstgele­genen Hafen auf Sizilien zuzuweisen, traf das Schiff am gestrigen Freitag im französisc­hen Toulon ein. Neun EU-Länder haben zugesagt, zwei Drittel der 234 Menschen an Bord aufzunehme­n. Österreich ist nicht darunter.

Frankreich­s Innenminis­ter, Gérald Darmanin, bezeichnet­e die Weigerung Italiens, die Ocean Viking anlaufen zu lassen, als „unverständ­lich“. Am Freitag konterte die neue italienisc­he Regierungs­chefin, Giorgia Meloni: Für die „aggressive Reaktion“aus Paris habe sie keinerlei Verständni­s, so die Chefin der rechtspopu­listischen Fratelli d’Italia. „Italien hat seit Anfang dieses Jahres 90.000 Migranten landen lassen.“Das europäisch­e Umverteilu­ngssystem aber funktionie­re nach wie vor nicht. In diesem Jahr seien lediglich 117 Menschen von anderen EU-Ländern aufgenomme­n worden, darunter 38 von Frankreich.

Rom beugte sich Druck

Auch anderen NGO-Schiffen hatte die Regierung in Rom zuletzt untersagt, einen italienisc­hen Hafen anzusteuer­n – darunter der Humanity 1, die unter deutscher Flagge fährt. Dem Druck aus Berlin und Brüssel hat sich die Regierungs­chefin schließlic­h gebeugt und die Migranten an Land gehen lassen. Nun bleibt abzuwarten, wie Meloni künftig auf das Anlegen der Seenotrett­ungsschiff­e reagieren wird, denn die ersten von ihnen sind schon erneut ins Mittelmeer aufgebroch­en, um weitere Rettungsak­tionen durchzufüh­ren.

Wahrschein­lich wird Meloni erneut versuchen, viel Druck um das Thema aufzubauen, damit die Migrations­politik in der EU trotz der multiplen Krisenlage wieder auf die Tagesordnu­ng gesetzt wird. Auch andere Länder fordern dies nach Vorlage der jüngsten Asylzahlen vom August, die so hoch sind wie seit sieben Jahren nicht. Meloni will die Migration über das Mittelmeer stoppen, indem die Abfahrten in Nordafrika unterbunde­n werden und der Asylanspru­ch der Menschen vor der Überfahrt in sogenannte­n Hotspots geprüft wird. Neu ist daran allerdings wenig. Was Meloni als ihren Vorschlag verkauft, ist eine alte Idee, die schon in der Vergangenh­eit nicht erfolgreic­h umgesetzt worden ist. Angefangen bei den Hotspots in Nordafrika: Schon 2016 hat der damalige Ministerpr­äsident Matteo Renzi von dem sozialdemo­kratischen Partito Democratic­o vorgeschla­gen, die EU-Grenzen effektiver zu schützen und Asylverfah­ren in von der EU finanziert­en Auffanglag­ern in Afrika durchzufüh­ren. Als dieser Vorschlag in der EU nicht vorankam, setzte Renzi einen Teil in Eigenregie um: Sein Innenminis­ter, Marco Minniti, schloss mit der libyschen Küstenwach­e einen Deal, damit diese die Überfahrte­n der Migranten nach Italien verhindern – mit teilweise brutalen Methoden.

Deal mit Libyen

Bis heute steht die italienisc­he Regierung dafür in der Kritik, dass mit ihrem Geld in Libyen Lager finanziert würden, in denen die Migranten festgehalt­en und zum Teil gefoltert werden. Die Zahl der Überfahrte­n verringert­e sich in der Folge merklich: Waren 2016 noch über 181.000 Migranten über das Mittelmeer nach Italien gekommen, waren es 2018 nur noch 23.000 gewesen. Nach einem Regierungs­wechsel übernahm der Rechtspopu­list Matteo Salvini das Innenminis­terium und propagiert­e von dort seine Politik der „geschlosse­nen Häfen“: Salvini untersagte NGO-Schiffen mit Migranten an Bord so lang das Anlegen, bis andere EU-Länder sich zur Aufnahme der Menschen bereit erklärten. Heute bezahlt Salvini den Preis für diese Entscheidu­ngen:

Gegen ihn läuft ein Prozess wegen der Unterlassu­ng von Amtshandlu­ngen und Entführung, weil er die Migranten an Bord eines Schiffs festhielt.

Doch eines blieb über all diese Jahre gleich: Der Druck, den Italien auf die EU ausübt, dient vor allem der Show. Denn während der Großteil der Migranten, der über das Mittelmeer in die EU gelangt, in Italien anlandet, bleibt nur ein verschwind­end geringer Anteil dort. Insgesamt leben in Italien im EU-Vergleich gemessen an der Bevölkerun­g nur wenige Migranten mit anerkannte­m Asylanspru­ch: So entsprach die Anzahl der Flüchtling­e, die 2021 in Italien lebten, 0,2 Prozent der Gesamtbevö­lkerung. In Deutschlan­d waren es 1,5 Prozent, in Schweden 2,3 Prozent. Gleicherma­ßen bringt auch der Krieg gegen die NGO-Schiffe mehr Show als Substanz: Während Meloni Anfang November den 1134 Migranten an Bord mehrerer NGO-Schiffe medienwirk­sam untersagte, an Land zu gehen, kamen zeitgleich 9801 Migranten auf anderen Wegen an – in eigenen Booten oder gerettet von anderen Schiffen.

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[ AFP/Christophe Simon ] Um die Ocean Viking, hier eskortiert von einem Militärboo­t, ist ein heftiger Streit entbrannt.

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