Cronenberg umarmt das wuchernde Fleisch
Die Ikone des „Body Horror“setzt mit „Crimes of the Future“einen versöhnlichen Schlussakt: Ekel und Schrecken lösen sich einer Utopie auf.
Dass David Cronenbergs jüngster Film den gleichen Titel trägt wie eines seiner Frühwerke aus den 1970er-Jahren, mit diesem aber weder inhaltlich noch konzeptuell verbunden ist, mag bloß ein launiger Einfall gewesen sein. Wahrscheinlicher aber ist, dass der 79-jährige Kanadier damit bereits auf ein Axiom seiner Kunst hinweist: dass es in seinen kreativen Ausgeburten selten bis nie (einfache) Antworten gibt, kaum je eine Erklärung dieser zwischen Fleisch und Stahl, Geist und Körper pendelnden Finsterwelten. Cronenbergs Kino existiert im Interim, in einer mutierenden Welt, in der das Alte sich aufgelöst, das Neue aber noch nicht manifestiert hat. So bleiben viele seiner Filme rätselhaft.
Die Anfangssequenz von „Crimes of the Future“zeigt das beispielhaft: In einer Meeresbucht ragt ein seitwärts gekentertes Schiff wie ein gestrandeter metallener Wal aus dem Wasser, am Strand spielt ein Bub im Sand. Dann sehen wir ihn im Badezimmer, wie er begierig große Stücke von einem Plastikeimer abbeißt und verspeist. Später liegt er auf dem Bett und die Mutter erstickt ihn mit einem Kopfkissen. Noch später steht der Vater vor dem Haus der Familie und weint. Viel später erst vermag man diese Momente einzupassen in den Rest der Handlung.
„Crimes of the Future“spielt – der Titel lässt es erahnen – in einer nicht näher bestimmten Zukunft, entworfen als rostbraune Transitzone zwischen Wellblechbaracken, brutalistischen Bauten und postindustriellem Ödland. Doch nicht alles steht still in dieser toten Welt: Die Körper selbst sind in Aufruhr. Immer mehr Menschen verlieren ihr Schmerzempfinden, werden immun gegen jedwede Infektion, während in ihnen neue, scheinbar nutzlose Organe wuchern.
Vermessung der neuen Erfahrungswelt
Cronenberg, diese „Body Horror“-Ikone professoralen Zuschnitts, schreitet zur radikal-spröden Vermessung dieser neuen Empfindungsund Erfahrungswelt. Im Gegensatz zu seinen kultisch verehrten Genrearbeiten wie „Videodrome“(1983), die philosophische Denkfiguren und Körperkino mit schockstrategischem Knalleffekt zusammengeführt haben, geht es ihm in „Crimes of the Future“weniger um die Auswirkungen von Mutationserscheinungen auf den Einzelnen. Vielmehr entwirft der Film ein Panoptikum der gesellschaftlichen Befindlichkeit angesichts von neuem Fleisch.
Reiseführer durch diese hässliche neue Welt ist Saul Tenser (herausragend: Viggo Mortensen), ein Künstler, der sich die (womöglich) bösartigen Wucherungen von seiner Kreativpartnerin Caprice (Léa Seydoux) in Live-Performances aus den Eingeweiden schneiden lässt. Zu Hause versucht er, während er in biomechanischen Apparaturen liegt oder auf ihnen hockt, seinen mutierenden Körper auf altes Empfinden zu trimmen, auf dass er wieder normal schlafen oder essen kann. Ergebnislos. Eine noch inoffizielle Behörde (als Bürokratin: Kristen Stewart) registriert die aus dem Körper geschnittenen Organe im Versuch, die beängstigende (R-)Evolution zumindest verwalten zu können. Und eine Untergrundbewegung will Bewusstsein dafür schaffen, dass die Mutationen nur der nächste Schritt in der menschlichen Entwicklung sein könnten.
Einer der Rädelsführer ist Lang Dotrice (Scott Speedman), der Vater des zu Filmbeginn ermordeten Buben Brecken, mit dessen Leichnam er den letztgültigen Beweis für seine Theorie antreten möchte. Saul und Caprice sollen diesen öffentlich obduzieren, denn laut Lang wurde das Kind bereits mit den neuen Organen geboren.
Mit einem Lächeln Richtung Zukunft
Auf dem Papier schließt sich „Crimes of the Future“nahtlos an die früheren Body-Horror-Großtaten Cronenbergs an. Bisweilen zitiert sich der Regisseur selbst, wie in einer augenzwinkernden Querverbindung zu seinem größten Erfolg, „Die Fliege“(1986). Am seelenverwandtesten aber ist seine meisterliche J.-G.-Ballard-Adaption „Crash“(1996). Darin fetischisierte eine Clique Opfer von Autounfällen.
Beide Filme schließen mit einem hoffnungsfrohen Bild, getragen von Howard Shores kühlen, gleichwohl sentimentalen Kompositionen. Während in „Crash“die Hauptfiguren nach einem schweren Unfall in sexueller Ekstase vergehen, wird Saul Tenser von seiner Pein erlöst und blickt mit einem Lächeln Richtung Zukunft. „Crimes of the Future“ist ein letzter, versöhnlicher Akt von Cronenbergs Studien. Das neue Fleisch wird umarmt, im Inneren des Körpers lauert nicht mehr das Grauen. Der Horror löst sich in einer Utopie auf.