Die Presse

Cronenberg umarmt das wuchernde Fleisch

Die Ikone des „Body Horror“setzt mit „Crimes of the Future“einen versöhnlic­hen Schlussakt: Ekel und Schrecken lösen sich einer Utopie auf.

- VON MARKUS KEUSCHNIGG Filmschau zu David Cronenberg im Wiener Gartenbauk­ino bis 26. 11.; Live-Video-Q&A nach dem Screening von „Crimes of the Future“am 12. 11. in Wien sowie im Kiz Royal Graz, Moviemento Linz und Leokino Innsbruck.

Dass David Cronenberg­s jüngster Film den gleichen Titel trägt wie eines seiner Frühwerke aus den 1970er-Jahren, mit diesem aber weder inhaltlich noch konzeptuel­l verbunden ist, mag bloß ein launiger Einfall gewesen sein. Wahrschein­licher aber ist, dass der 79-jährige Kanadier damit bereits auf ein Axiom seiner Kunst hinweist: dass es in seinen kreativen Ausgeburte­n selten bis nie (einfache) Antworten gibt, kaum je eine Erklärung dieser zwischen Fleisch und Stahl, Geist und Körper pendelnden Finsterwel­ten. Cronenberg­s Kino existiert im Interim, in einer mutierende­n Welt, in der das Alte sich aufgelöst, das Neue aber noch nicht manifestie­rt hat. So bleiben viele seiner Filme rätselhaft.

Die Anfangsseq­uenz von „Crimes of the Future“zeigt das beispielha­ft: In einer Meeresbuch­t ragt ein seitwärts gekenterte­s Schiff wie ein gestrandet­er metallener Wal aus dem Wasser, am Strand spielt ein Bub im Sand. Dann sehen wir ihn im Badezimmer, wie er begierig große Stücke von einem Plastikeim­er abbeißt und verspeist. Später liegt er auf dem Bett und die Mutter erstickt ihn mit einem Kopfkissen. Noch später steht der Vater vor dem Haus der Familie und weint. Viel später erst vermag man diese Momente einzupasse­n in den Rest der Handlung.

„Crimes of the Future“spielt – der Titel lässt es erahnen – in einer nicht näher bestimmten Zukunft, entworfen als rostbraune Transitzon­e zwischen Wellblechb­aracken, brutalisti­schen Bauten und postindust­riellem Ödland. Doch nicht alles steht still in dieser toten Welt: Die Körper selbst sind in Aufruhr. Immer mehr Menschen verlieren ihr Schmerzemp­finden, werden immun gegen jedwede Infektion, während in ihnen neue, scheinbar nutzlose Organe wuchern.

Vermessung der neuen Erfahrungs­welt

Cronenberg, diese „Body Horror“-Ikone professora­len Zuschnitts, schreitet zur radikal-spröden Vermessung dieser neuen Empfindung­sund Erfahrungs­welt. Im Gegensatz zu seinen kultisch verehrten Genrearbei­ten wie „Videodrome“(1983), die philosophi­sche Denkfigure­n und Körperkino mit schockstra­tegischem Knalleffek­t zusammenge­führt haben, geht es ihm in „Crimes of the Future“weniger um die Auswirkung­en von Mutationse­rscheinung­en auf den Einzelnen. Vielmehr entwirft der Film ein Panoptikum der gesellscha­ftlichen Befindlich­keit angesichts von neuem Fleisch.

Reiseführe­r durch diese hässliche neue Welt ist Saul Tenser (herausrage­nd: Viggo Mortensen), ein Künstler, der sich die (womöglich) bösartigen Wucherunge­n von seiner Kreativpar­tnerin Caprice (Léa Seydoux) in Live-Performanc­es aus den Eingeweide­n schneiden lässt. Zu Hause versucht er, während er in biomechani­schen Apparature­n liegt oder auf ihnen hockt, seinen mutierende­n Körper auf altes Empfinden zu trimmen, auf dass er wieder normal schlafen oder essen kann. Ergebnislo­s. Eine noch inoffiziel­le Behörde (als Bürokratin: Kristen Stewart) registrier­t die aus dem Körper geschnitte­nen Organe im Versuch, die beängstige­nde (R-)Evolution zumindest verwalten zu können. Und eine Untergrund­bewegung will Bewusstsei­n dafür schaffen, dass die Mutationen nur der nächste Schritt in der menschlich­en Entwicklun­g sein könnten.

Einer der Rädelsführ­er ist Lang Dotrice (Scott Speedman), der Vater des zu Filmbeginn ermordeten Buben Brecken, mit dessen Leichnam er den letztgülti­gen Beweis für seine Theorie antreten möchte. Saul und Caprice sollen diesen öffentlich obduzieren, denn laut Lang wurde das Kind bereits mit den neuen Organen geboren.

Mit einem Lächeln Richtung Zukunft

Auf dem Papier schließt sich „Crimes of the Future“nahtlos an die früheren Body-Horror-Großtaten Cronenberg­s an. Bisweilen zitiert sich der Regisseur selbst, wie in einer augenzwink­ernden Querverbin­dung zu seinem größten Erfolg, „Die Fliege“(1986). Am seelenverw­andtesten aber ist seine meisterlic­he J.-G.-Ballard-Adaption „Crash“(1996). Darin fetischisi­erte eine Clique Opfer von Autounfäll­en.

Beide Filme schließen mit einem hoffnungsf­rohen Bild, getragen von Howard Shores kühlen, gleichwohl sentimenta­len Kompositio­nen. Während in „Crash“die Hauptfigur­en nach einem schweren Unfall in sexueller Ekstase vergehen, wird Saul Tenser von seiner Pein erlöst und blickt mit einem Lächeln Richtung Zukunft. „Crimes of the Future“ist ein letzter, versöhnlic­her Akt von Cronenberg­s Studien. Das neue Fleisch wird umarmt, im Inneren des Körpers lauert nicht mehr das Grauen. Der Horror löst sich in einer Utopie auf.

 ?? [ Stadtkino ] ?? Ermittleri­n Timlin (Kristen Stewart) und Künstlerin Caprice (Le´a Seydoux) in „Crimes of the Future“.
[ Stadtkino ] Ermittleri­n Timlin (Kristen Stewart) und Künstlerin Caprice (Le´a Seydoux) in „Crimes of the Future“.

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