Gänsehaut-Syndrom in der Politik und die Liebe zu falschen Umfragen
Warum sich Medien bei den Zwischenwahlen in den USA am Dienstag wieder als Hellseher blamiert haben und das Spiel mit Prognosen beenden sollten.
Betrachtet man das globale Geschehen, gibt es zahlreiche Gründe für eine furchtgetriebene Verstimmung. Aber nein, sie reichen offenbar nicht aus, Fakten reichen nicht aus. Tief schwarzgemalte Prognosen müssen her, als würden Demoskopen, Journalisten und Bevölkerung unter einer Suchterkrankung leiden, die man Gänsehaut-Syndrom nennen könnte. Es genügt nicht, vergangene und gegenwärtige Fakten zu analysieren und halbwegs gesicherte Schlüsse daraus abzuleiten. Es muss vorhergesagt, angekündigt, prophezeit werden auf Teufel komm raus. Wohl auch manipuliert.
Es ist schon wieder was passiert: Der von allen Umfragen in den USA und in deren
Schlepptau von den Medien vorhergesagte Triumph der Republikaner von Donald Trumps Gnaden bei den sogenannten Midterm-Wahlen am Dienstag fand so nicht statt. Die angekündigte rote Welle erreichte das Ufer der Wahlzellen nicht, der Tsunami des Trumpismus blieb ein schwacher Sturm. Sicher, die republikanische Partei verzeichnete Gewinne, aber dies gelang noch fast jeder Opposition in Washington bei den Zwischenwahlen.
In den Wochen vor dem Urnengang, bei dem es um die Demokratie in den USA gehen sollte, blieb genügend Zeit, sich gehörig zu fürchten: Ein Erdrutsch in Richtung Republikanischer Partei wird eine neuerliche Kandidatur Trumps als Präsident 2024 unausweichlich machen, wird dem extremen Lager der Konservativen ungeheuren Auftrieb geben – mit allen möglichen Folgen von Bürgerkrieg bis Zerstörung der demokratischen Institutionen. Die Republikaner werden die Ukraine im Stich lassen, die Folgen für Europa wären unabsehbar. Wer da keine Gänsehaut bekommen hat!
Man muss sich schon fragen, was oder wen bedienen die professionellen Schwarzmaler? Den Umfrage-Institutionen ist da noch der geringste Vorwurf zu machen. Sie sind davon abhängig, dass sich die Menschen befragen lassen und die Wahrheit sagen. Das sei immer seltener der Fall, hieß es nun in den USA. Bei besonders knappen Rennen in der Politik führt das zu großen Verzerrungen. Aber nicht nur das: Manche Befragten versuchten die Meinungsforschungsinstitute bewusst auf falsche Fährten zu lenken.
Und da ist nicht einmal die gewollte Manipulation durch die wahlwerbenden Parteien gemeint. Demgemäß hätten die Republikaner bewusst grandiose Ergebnisse veröffentlicht – in der Hoffnung, auf diese Weise von einem Nachahmeffekt zu profitieren. Nichts ist so sexy wie Erfolg in der Politik. Nur, die Republikaner haben sich offenbar verschätzt. Ihre Siegesgewissheit dürfte nicht nur Wechselwähler für die Demokraten mobilisiert haben, sondern sie lässt ihre tatsächlichen Zugewinne nun wie eine Niederlage erscheinen – und die Verluste der Demokraten und ihres Präsidenten, Joe Biden, wie einen Erfolg. Denkt da jemand an die Tiroler VP? Wirklich wichtig aber sind die Schlüsse, die wir Journalisten und die Medien daraus ziehen. Wie oft müssen wir noch falsch liegen? Das Geschäft mit der Gänsehaut der Medienkonsumenten wirft keinen Profit ab. Verlierer ist die eigene Glaubwürdigkeit. Können Ergebnisse nicht abgewartet werden, weil das p. t. Publikum unbedingt wissen will, was sein wird – nur um dann den Medien „Ahnungslosigkeit“vorwerfen zu können?
Ist Joe Biden nach diesen Wahlergebnissen die „lahme Ente“, als die er schon abgetan wurde? Nein.
Wenn sich schon die Demoskopen nicht aus diesem falschen Spiel nehmen, weil ihre Auftraggeber in der Politik Ergebnisse zu Mobilisierungszwecken verwenden, so sollten es wenigstens die Medien machen. Es müsste genügen, die Dinge einzuordnen, zu analysieren, von Wahrscheinlichkeiten zu reden und zu schreiben. Am Beispiel des US-Präsidenten Joe Biden: Zeigt er Altersschwäche? Ja! Ist er nach diesen Wahlergebnissen die „lahme Ente“, als die er schon abgetan wurde? Nein. Der Weg zur Glaubwürdigkeit ist mit Fakten gepflastert, nicht mit Hellseherkarten.
Zur Autorin: Anneliese Rohrer ist Journalistin in Wien. diepresse.com/rohrer