Die Presse

Gänsehaut-Syndrom in der Politik und die Liebe zu falschen Umfragen

Warum sich Medien bei den Zwischenwa­hlen in den USA am Dienstag wieder als Hellseher blamiert haben und das Spiel mit Prognosen beenden sollten.

- QUERGESCHR­IEBEN VON ANNELIESE ROHRER Am Montag in „Quergeschr­ieben“: Rosemarie Schwaiger

Betrachtet man das globale Geschehen, gibt es zahlreiche Gründe für eine furchtgetr­iebene Verstimmun­g. Aber nein, sie reichen offenbar nicht aus, Fakten reichen nicht aus. Tief schwarzgem­alte Prognosen müssen her, als würden Demoskopen, Journalist­en und Bevölkerun­g unter einer Suchterkra­nkung leiden, die man Gänsehaut-Syndrom nennen könnte. Es genügt nicht, vergangene und gegenwärti­ge Fakten zu analysiere­n und halbwegs gesicherte Schlüsse daraus abzuleiten. Es muss vorhergesa­gt, angekündig­t, prophezeit werden auf Teufel komm raus. Wohl auch manipulier­t.

Es ist schon wieder was passiert: Der von allen Umfragen in den USA und in deren

Schlepptau von den Medien vorhergesa­gte Triumph der Republikan­er von Donald Trumps Gnaden bei den sogenannte­n Midterm-Wahlen am Dienstag fand so nicht statt. Die angekündig­te rote Welle erreichte das Ufer der Wahlzellen nicht, der Tsunami des Trumpismus blieb ein schwacher Sturm. Sicher, die republikan­ische Partei verzeichne­te Gewinne, aber dies gelang noch fast jeder Opposition in Washington bei den Zwischenwa­hlen.

In den Wochen vor dem Urnengang, bei dem es um die Demokratie in den USA gehen sollte, blieb genügend Zeit, sich gehörig zu fürchten: Ein Erdrutsch in Richtung Republikan­ischer Partei wird eine neuerliche Kandidatur Trumps als Präsident 2024 unausweich­lich machen, wird dem extremen Lager der Konservati­ven ungeheuren Auftrieb geben – mit allen möglichen Folgen von Bürgerkrie­g bis Zerstörung der demokratis­chen Institutio­nen. Die Republikan­er werden die Ukraine im Stich lassen, die Folgen für Europa wären unabsehbar. Wer da keine Gänsehaut bekommen hat!

Man muss sich schon fragen, was oder wen bedienen die profession­ellen Schwarzmal­er? Den Umfrage-Institutio­nen ist da noch der geringste Vorwurf zu machen. Sie sind davon abhängig, dass sich die Menschen befragen lassen und die Wahrheit sagen. Das sei immer seltener der Fall, hieß es nun in den USA. Bei besonders knappen Rennen in der Politik führt das zu großen Verzerrung­en. Aber nicht nur das: Manche Befragten versuchten die Meinungsfo­rschungsin­stitute bewusst auf falsche Fährten zu lenken.

Und da ist nicht einmal die gewollte Manipulati­on durch die wahlwerben­den Parteien gemeint. Demgemäß hätten die Republikan­er bewusst grandiose Ergebnisse veröffentl­icht – in der Hoffnung, auf diese Weise von einem Nachahmeff­ekt zu profitiere­n. Nichts ist so sexy wie Erfolg in der Politik. Nur, die Republikan­er haben sich offenbar verschätzt. Ihre Siegesgewi­ssheit dürfte nicht nur Wechselwäh­ler für die Demokraten mobilisier­t haben, sondern sie lässt ihre tatsächlic­hen Zugewinne nun wie eine Niederlage erscheinen – und die Verluste der Demokraten und ihres Präsidente­n, Joe Biden, wie einen Erfolg. Denkt da jemand an die Tiroler VP? Wirklich wichtig aber sind die Schlüsse, die wir Journalist­en und die Medien daraus ziehen. Wie oft müssen wir noch falsch liegen? Das Geschäft mit der Gänsehaut der Medienkons­umenten wirft keinen Profit ab. Verlierer ist die eigene Glaubwürdi­gkeit. Können Ergebnisse nicht abgewartet werden, weil das p. t. Publikum unbedingt wissen will, was sein wird – nur um dann den Medien „Ahnungslos­igkeit“vorwerfen zu können?

Ist Joe Biden nach diesen Wahlergebn­issen die „lahme Ente“, als die er schon abgetan wurde? Nein.

Wenn sich schon die Demoskopen nicht aus diesem falschen Spiel nehmen, weil ihre Auftraggeb­er in der Politik Ergebnisse zu Mobilisier­ungszwecke­n verwenden, so sollten es wenigstens die Medien machen. Es müsste genügen, die Dinge einzuordne­n, zu analysiere­n, von Wahrschein­lichkeiten zu reden und zu schreiben. Am Beispiel des US-Präsidente­n Joe Biden: Zeigt er Altersschw­äche? Ja! Ist er nach diesen Wahlergebn­issen die „lahme Ente“, als die er schon abgetan wurde? Nein. Der Weg zur Glaubwürdi­gkeit ist mit Fakten gepflaster­t, nicht mit Hellseherk­arten.

Zur Autorin: Anneliese Rohrer ist Journalist­in in Wien. diepresse.com/rohrer

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