Was von den „lustigen Tirolern“übrig blieb
Ethnologie. Beim „Tiroler Abend“wird seit 1900 Volkskultur für Gäste zur Schau gestellt. Nach der Instrumentalisierung durch Austrofaschisten und Nazis kam die Sinnkrise.
Die Tiroler sind lustig, die Tiroler sind froh, sie verkaufen ihr Bettchen und schlafen auf Stroh.“Soweit ein paar Textzeilen eines alten Volkslieds, in dem schon die enge Verbindung von Geselligkeit und Tourismus in Tirol besungen werden. Auch wenn sich das Bundesland längst als moderne Sportregion präsentiert, so ganz abschütteln lässt sich das alte Image vom „lustigen Tiroler“nicht.
Sandra Hupfauf vom Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Uni Innsbruck spürt diesem Motiv in ihren Forschungen nach. In den vergangenen drei Jahren setzte sich die Musikwissenschaftlerin in einem Projekt, das vom Erinnerungskulturfonds des Landes Tirol gefördert wird, konkret mit dem sogenannten Tiroler Abend von seinen Anfängen im 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart auseinander. Ein Ziel war, die politische Instrumentalisierung der Volkskultur anhand dieses Phänomens aufzuarbeiten.
Heinrich Heine war kein Fan
Hupfauf ist selbst gebürtige Tirolerin und in einer musikalischen Familie aufgewachsen. „Ich habe schon früh gemerkt, dass das Singen für Touristinnen und Touristen etwas anderes ist als das Musizieren daheim“, sagt sie. Letzteres habe sich „ehrlicher“angefühlt. „In meiner Jugend waren die Vertreterinnen und Vertreter der Volksmusik und jene der volkstümlichen Musik regelrecht verfeindet.“
Die Väter und Mütter der volkstümlichen Musik waren die Nationalsängerinnen und Nationalsänger. Hupfauf: „Das waren wandernde Sänger, die schon im frühen 19. Jahrhundert überall auf der Welt aufgetreten sind.“In Tracht und jodelnd verkörperten sie die Rolle des „lustigen Tirolers“perfekt – sehr zur Begeisterung ihres internationalen Publikums. Dem Spektakel wurde freilich nicht von allen kritiklos applaudiert. So unterstellte etwa der deutsche Schriftsteller Heinrich Heine – er war den Tirolerinnen und Tirolern generell nicht sehr wohlgesinnt – den Nationalsängern 1827 in einem Londoner Salon den Ausverkauf ihrer Folklore.
Nationalsänger wurden Wirte
„Als der Tourismus Ende des 19. Jahrhunderts Tirol erreichte und in Innsbruck die ersten großen Hotels eröffneten, mussten die Nationalsänger nicht mehr herumreisen“, erklärt Hupfauf. Sie wurden zu Gastwirten, die nur noch zu Werbezwecken auf Tournee gingen und sonst Besucherinnen und Besucher in der Heimat beglückten. Der Tiroler Abend war geboren. Vorreiter war der schon durch Amerika und Russland getourte Nationalsänger Ludwig Rainer. Er ließ sich als singender Gastwirt am Achensee nieder. „Die Veranstaltungen waren sehr nah am Theater, das waren Bühnenprogramme mit lebenden Bildern“, beschreibt Hupfauf. „Es wurde getanzt, musiziert und gesungen. Die Jodler waren sehr sentimental und manieriert. Heute würde man sagen schwülstig, damals hat das dem Zeitgeist entsprochen.“
Ein einschneidendes Erlebnis für Tirol war der Verlust Südtirols im Ersten Weltkrieg. „Das war ein Trauma“, so Hupfauf. „Der Tiroler Abend wurde allein aufgrund seines Namens schon zwangsläufig zu einer politischen Veranstaltung.“Verstärkt wurde das etwa, wenn die Sänger in Meraner Kostümen auftraten oder beim Singen des Andreas-Hofer-Lieds „Zu Mantua in Banden“. In der Zwischenkriegszeit erlebte der Tourismus eine Krise: Die Menschen waren arm, die Gäste blieben aus. Dazu kam 1933 die Tausend-MarkSperre, eine Wirtschaftssanktion der deutschen Reichsregierung, die Reisen nach Österreich durch eine hohe Grenzgebühr de facto für die Mehrheit verunmöglichte.
Verbrüderung mit Touristen
Der politische Beigeschmack der Veranstaltung wurde zunehmend für deutschnationale Propaganda ausgenutzt. Dann kam der „Anschluss“ und mit ihm – busweise – der deutsche Tourismus zurück. Das Paradox: Die Gäste waren nun keine Fremden mehr, man gehörte zum selben „Volk“. „Der Tiroler Abend wurde zu einer Verbrüderungsmaßnahme. Es wurde gemeinsam gesungen, getanzt, getrunken und gefeiert.“
Einen Schwerpunkt bei der ideologiekritischen Betrachtung des Tiroler Abends legte Hupfauf auf die Transformation von einer politischen Manifestation zu einer vermeintlich unpolitischen touristischen Attraktion: „Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich der Tiroler Abend zu einer bedeutungsleeren Hülle, mit der viele nichts anfangen konnten.“Gerade noch gemeinsam Feiernde standen sich als Gast und Gastgebende gegenüber: War man Freund oder Feind? Opfer oder Täter?
Beim unveränderten TirolerAbend-Programm wurde die Vergangenheit verdrängt. „Die komplexen Mechanismen der NSVolkskultur-Propaganda waren schwer zu durchschauen“, sagt Hupfauf. „Für viele war der um sich greifende ,Volkskultur-Kater‘ deshalb unverständlich.“Schließlich kippte die Stimmung vollends. Es kam zu Ausfälligkeiten und (sexuellen) Übergriffen, und die Einwände, dass diese Touristenveranstaltung die eigene Volkskultur lächerlich mache, wurde lauter.
Heute jubeln Gäste von weither
Ende der 1960er-Jahre sah sich das Land Tirol dazu gezwungen, Maßnahmen zur Qualitätssicherung einzuleiten. Diese konnten zwar die Inhalte der Programme verändern, nicht aber deren Bedeutung für die kulturelle Identität der Tirolerinnen und Tiroler wiederherstellen. Hupfauf: „Noch heute ist der Tiroler Abend für die meisten Einheimischen eine volkskulturelle Grenzregion, in die man sich selten verirrt.“Auch die deutschsprachigen und jungen Gäste zeigen sich kaum mehr begeistert. Am ehesten interessieren sich dafür weit gereiste Touristinnen und Touristen aus Ländern wie Indien oder Japan.