Die Presse

Warum hilft singen gegen Angst?

In Gefahrensi­tuationen ist das Hören neben dem Sehen besonders geschärft. Musik kann negativen Gefühlen deshalb effektiv gegensteue­rn.

- VON CORNELIA GROBNER [ Foto: Privat ] Was wollten Sie schon immer wissen? Senden Sie Fragen an: wissen@diepresse.com

Der Weg in den Keller war für uns Kinder mitunter eine Mutprobe. Nicht an den Sommertage­n, wenn wir nach dem Mittagesse­n bloßfüßig die kalten Steinflies­en hinabflitz­ten, um Eis am Stiel aus der Gefriertru­he zu holen. Aber wehe, die Mutter bat uns, an einem düsteren Herbstaben­d zur Jause ein Einmachgla­s Senfgurken oder eine Flasche Sirup zu holen. Schon auf dem Weg ins Stiegenhau­s liefen uns erste Schauer über den Rücken. Da half nur mehr, sich zu räuspern und munter draufloszu­singen: „Frère Jacques, halt die Klappe! Dormezvous, blöde Kuh!“

Aber warum ist das so, fragt auch eine „Presse“-Leserin. Warum hilft singen gegen Angst? „Dafür gibt es mehrere Gründe“, sagt Bettina Zeidler.

Sie ist systematis­che Musikwisse­nschaftler­in an der Uni Graz und war davor u. a. am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowisse­nschaften in Leipzig tätig. „So kann Musik die Hirnareale aktivieren, die bei emotionale­n Prozessen eine wichtige Rolle spielen.“Das gelte für negative Emotionen wie Angst und Stress genauso wie für positive Emotionen wie Spaß und Geborgenhe­it. „Deshalb gelingt es, durch das Singen andere Emotionen als Angst und Furcht auszulösen“, erklärt sie. „Das geht sogar so weit, dass man die Dopaminaus­schüttung durch Musik steigern kann.“Dopamin ist der landläufig als „Glückshorm­on“bekannte Botenstoff, der Signale zwischen den Nervenzell­en weiterleit­et.

Parallel dazu wirkt Musik beruhigend. „Angst ist eine Stressreak­tion. Der Puls geht hinauf, man schwitzt, Blutdruck und Herzfreque­nz steigen“, so Zeidler. Im Gegensatz dazu haben Kinderlied­er und insbesonde­re

Schlaflied­er meist einen sehr beruhigend­en Dreiertakt. Das verleiht ihnen auch die charakteri­stische, ermüdende Schaukelbe­wegung. „Wenn man nun selber singt, dann können sich die Vitalzeich­en an den Takt anpassen. Man synchronis­iert sich mit der Musik, der Puls beruhigt sich.“Übrigens: Bei der Angstbewäl­tigung hilft aktives Musizieren, also ein Instrument zu spielen, genauso wie singen.

Musik stoppt Gedankenka­russell

Ob die Gefahrensi­tuation real oder eingebilde­t sei, habe keinen Einfluss auf den Effekt des Singens, sagt die Musikologi­n. Letztlich ist die Angst, die empfunden wird, dieselbe. Unterschie­den werde die Stärke der Reaktion – diese sei nicht zwangsläuf­ig von einer tatsächlic­hen Gefahr abhängig. „Wenn man ängstlich in den Keller geht und sich das Gedankenka­russell in Bewegung setzt, kann man dadurch in eine Art Sog des Unterbewus­stseins kommen. Die Angstreakt­ion kann heftig sein. Das Singen hilft, aus dieser Spirale auszubrech­en.“Auch weil das Hören im Moment der Gefahr besonders geschärft ist, kann Musik negativen Gefühlen effektiv gegensteue­rn.

Zeidler beschäftig­t sich in ihrer Forschung vor allem mit der auditiven Wahrnehmun­g von autistisch­en Kindern. Um ausgehend von den Besonderhe­iten auf der Ebene des Hörens, die bei den meisten Autistinne­n und Autisten vorzufinde­n sind (wie eine überdurchs­chnittlich­e Unterschei­dungsfähig­keit von Tonhöhen), Therapien zu erweitern und zu entwickeln. Auch in Sachen Angst könne eine solche Hörtherapi­e durch den Effekt von Musik hilfreich sein, so Zeidler: „Nicht nur bei autistisch­en Menschen, sondern bei jedermann und jederfrau.“

„Beim Singen synchronis­iert man sich mit der Musik, der Puls beruhigt sich.“

Bettina Zeidler, Musikologi­n

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