Warum hilft singen gegen Angst?
In Gefahrensituationen ist das Hören neben dem Sehen besonders geschärft. Musik kann negativen Gefühlen deshalb effektiv gegensteuern.
Der Weg in den Keller war für uns Kinder mitunter eine Mutprobe. Nicht an den Sommertagen, wenn wir nach dem Mittagessen bloßfüßig die kalten Steinfliesen hinabflitzten, um Eis am Stiel aus der Gefriertruhe zu holen. Aber wehe, die Mutter bat uns, an einem düsteren Herbstabend zur Jause ein Einmachglas Senfgurken oder eine Flasche Sirup zu holen. Schon auf dem Weg ins Stiegenhaus liefen uns erste Schauer über den Rücken. Da half nur mehr, sich zu räuspern und munter draufloszusingen: „Frère Jacques, halt die Klappe! Dormezvous, blöde Kuh!“
Aber warum ist das so, fragt auch eine „Presse“-Leserin. Warum hilft singen gegen Angst? „Dafür gibt es mehrere Gründe“, sagt Bettina Zeidler.
Sie ist systematische Musikwissenschaftlerin an der Uni Graz und war davor u. a. am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig tätig. „So kann Musik die Hirnareale aktivieren, die bei emotionalen Prozessen eine wichtige Rolle spielen.“Das gelte für negative Emotionen wie Angst und Stress genauso wie für positive Emotionen wie Spaß und Geborgenheit. „Deshalb gelingt es, durch das Singen andere Emotionen als Angst und Furcht auszulösen“, erklärt sie. „Das geht sogar so weit, dass man die Dopaminausschüttung durch Musik steigern kann.“Dopamin ist der landläufig als „Glückshormon“bekannte Botenstoff, der Signale zwischen den Nervenzellen weiterleitet.
Parallel dazu wirkt Musik beruhigend. „Angst ist eine Stressreaktion. Der Puls geht hinauf, man schwitzt, Blutdruck und Herzfrequenz steigen“, so Zeidler. Im Gegensatz dazu haben Kinderlieder und insbesondere
Schlaflieder meist einen sehr beruhigenden Dreiertakt. Das verleiht ihnen auch die charakteristische, ermüdende Schaukelbewegung. „Wenn man nun selber singt, dann können sich die Vitalzeichen an den Takt anpassen. Man synchronisiert sich mit der Musik, der Puls beruhigt sich.“Übrigens: Bei der Angstbewältigung hilft aktives Musizieren, also ein Instrument zu spielen, genauso wie singen.
Musik stoppt Gedankenkarussell
Ob die Gefahrensituation real oder eingebildet sei, habe keinen Einfluss auf den Effekt des Singens, sagt die Musikologin. Letztlich ist die Angst, die empfunden wird, dieselbe. Unterschieden werde die Stärke der Reaktion – diese sei nicht zwangsläufig von einer tatsächlichen Gefahr abhängig. „Wenn man ängstlich in den Keller geht und sich das Gedankenkarussell in Bewegung setzt, kann man dadurch in eine Art Sog des Unterbewusstseins kommen. Die Angstreaktion kann heftig sein. Das Singen hilft, aus dieser Spirale auszubrechen.“Auch weil das Hören im Moment der Gefahr besonders geschärft ist, kann Musik negativen Gefühlen effektiv gegensteuern.
Zeidler beschäftigt sich in ihrer Forschung vor allem mit der auditiven Wahrnehmung von autistischen Kindern. Um ausgehend von den Besonderheiten auf der Ebene des Hörens, die bei den meisten Autistinnen und Autisten vorzufinden sind (wie eine überdurchschnittliche Unterscheidungsfähigkeit von Tonhöhen), Therapien zu erweitern und zu entwickeln. Auch in Sachen Angst könne eine solche Hörtherapie durch den Effekt von Musik hilfreich sein, so Zeidler: „Nicht nur bei autistischen Menschen, sondern bei jedermann und jederfrau.“
„Beim Singen synchronisiert man sich mit der Musik, der Puls beruhigt sich.“
Bettina Zeidler, Musikologin