Die Presse

Migrations­politik von unten

Politik. Genfer Konvention, Dublin-Abkommen, staatliche Bestimmung­en – in Asylfragen überlappen sich die Gesetze. Julia Mour˜ao Permoser untersucht, was das für humanitäre Hilfe heißt.

- VON CORNELIA GROBNER

Leo! Leo! Der kindliche Ausruf signalisie­rt beim Fangenspie­len einen geschützte­n Ort. Hierhin hasten die Kleinen, um sich kurz auszuruhen und durchzuatm­en. Das Wort verweist auf den sogenannte­n Asylring beim Leopoldsal­tar des Stephansdo­ms. Im Mittelalte­r sollen ihn verfolgte Menschen berührt haben, um unter den Schutz der Kirche gestellt zu werden – eine Form des Asyls mit langer Tradition also.

Aber wie ist es heute darum bestellt? Und: Welche anderen Migrations­politiken „von unten“gibt es noch? Das untersucht die Politikwis­senschaftl­erin Julia Moura˜o Permoser von der Uni Innsbruck, derzeit Gastprofes­sorin an der Uni Wien. Sie interessie­rt sich vor allem für die Kirchenasy­lbewegung in Deutschlan­d. „Hier nehmen im europäisch­en Vergleich die meisten Kirchen teil, hier finden die meisten Menschen Schutz“, sagt Moura˜o Permoser. Es handelt sich um ein Netzwerk aller Kirchengem­einden, die bereit sind, geflüchtet­e Menschen vor der Abschiebun­g in deren jeweils erstes EUAnkunfts­land zu schützen (DublinAbko­mmen).

Nach Ablauf einer sechsmonat­igen Frist ermöglicht ihnen das in Deutschlan­d ein erfolgvers­prechender­es Verfahren, als es in Ländern wie Bulgarien oder Ungarn zu erwarten wäre. Parallel dazu richtet Moura˜o Permoser ihr Augenmerk auf die Seenotrett­ung sowie auf „Zufluchtsg­emeinden“(Sanctuary Cities), die gegenüber vertrieben­en Menschen eine liberalere Haltung als der Staat zeigen.

Fehler der EU beheben

In einem vom Wissenscha­ftsfonds FWF geförderte­n Projekt und in Kooperatio­n mit dem Europäisch­en Hochschuli­nstitut (EUI) in Florenz erforscht sie Migration als Schauplatz von Wertkonfli­kten sowie damit verbundene ethische Dilemmata. „Ich analysiere, auf welche Art und Weise religiöse Gruppen,

Die Seenotrett­er wollen nicht den Behörden zuarbeiten, die mit Libyen kooperiere­n.

Julia Moura˜o Permoser, Politikwis­senschaftl­erin, Uni Innsbruck

NGOs (zivilgesel­lschaftlic­he Organisati­onen, Anm.) und lokale Regierunge­n Widerstand gegen die Asylpoliti­k ihrer Regierunge­n leisten“, erklärt Moura˜o Permoser. „Außerdem will ich wissen, ob hier unterschie­dliche Werte aufeinande­rtreffen oder dieselben nur anders interpreti­ert werden.“

Die Forscherin betont, dass etwa Dreh- und Angelpunkt der Argumentat­ion sowohl von Befürworte­rn als auch Gegnern von Kirchenasy­l Grundprinz­ipien liberaler Demokratie­n sind – allen voran die Rechtsstaa­tlichkeit. „Kritiker sagen, es handelt sich um ein Umgehen von rechtmäßig beschlosse­nen Gesetzen. Befürworte­r hingegen berufen sich auf die Menschenre­chtskonven­tion und verweisen darauf, nichts Illegales zu tun, sondern nur höhere Gesetze zu bewahren.“

Moralische Konflikte auf See

Bei der Untersuchu­ng der Situation rund um die Seenotrett­ung im Mittelmeer fokussiert­e Moura˜o Permoser auf moralische Konflikte der Helfenden. Dazu führte sie mit dem Menschenre­chtsexpert­en Itamar Mann (Uni Haifa, Israel) Interviews mit Vertreteri­nnen und Vertretern verschiede­ner NGOs. Ihre Auswertung machte klar, wie sehr diese zwei ethische Dilemmata beschäftig­en: Zum einen wollen sie keinesfall­s ein weiteres Glied einer Ausbeutung­skette sein, ist doch bei der Schleppere­i die Grenze zwischen Dienstleis­tung und Ausbeutung oft eine fließende. Zum anderen haben sie Angst, durch die verpflicht­ete Meldung von Schiffen in Seenot Teil von staatliche­n oder EU-geförderte­n Pushbacks durch Drittlände­r zu werden. So würden die Geretteten in Folge beispielsw­eise an Libyen ausgehändi­gt – ein Land, in dem Folter und Verfolgung drohen. Als Ausweg aus dem Dilemma gaben viele an, den Moment des humanitäre­n Helfens vor dem Ertrinken zu isolieren. Die Schaffung von Schutzräum­en, in denen die Betroffene­n offen sprechen können und in denen sie Infos zu Hilfsangeb­oten an Land erhalten, ist eine weitere Strategie.

Schließlic­h analysiert­e die Forscherin mit dem Soziologen Rainer Bauböck (EUI) und Kollegen das Konzept von Zufluchtsg­emeinden u. a. anhand von Fallstudie­n zu Barcelona, Mailand, Sheffield und Wales. Hier werden auf verschiede­nen Ebenen – diskursiv, politisch, gesellscha­ftlich – Mauern zwischen lebenswich­tigen Dienstleis­tungen wie medizinisc­her Versorgung oder Bildung und Einwanderu­ngsbehörde­n errichtet. Im zweiten Teil des Projekts steht nun ein Vergleich mit US-amerikanis­chen Organisati­onen wie der „No More Deaths“-Bewegung an der Grenze zu Mexiko an.

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 ?? [ Getty Images/Anadolu Agency] ?? Je weniger man über die geretteten Menschen weiß, desto eher lassen sich ethische Dilemmata vermeiden.
[ Getty Images/Anadolu Agency] Je weniger man über die geretteten Menschen weiß, desto eher lassen sich ethische Dilemmata vermeiden.

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