Die Presse

Jeden Tag gibt es weniger Ukrainer

Manche Menschen interessie­ren sich nicht für die Folterkamm­ern, die man in den befreiten Gebieten gefunden hat, sondern wollen lieber darüber reden, wieso die russische Literatur in ukrainisch­en Schulen neuerdings keinen privilegie­rten Status mehr hat. Si

- Von Natalka Sniadanko

Meine Tochter hatte vor Kurzem einen Traum, in dem sie mit ihrer Großmutter in Lwiw lebte. Eines Abends kamen zwei russische Soldaten zu ihnen nach Hause. Einer befahl ihnen, die Wohnung zu verlassen, der andere erlaubte ihnen, noch eine Nacht zu bleiben. Dann sah meine Tochter, dass ihr Handy-Akku fast leer war, und fragte, ob sie ihr Telefon aufladen dürfe. Unwillig nickte der Russe. „Was für ein guter Mensch, er hat es mir erlaubt“, dachte meine Tochter im Traum.

Seit Mitte März lebe ich mit meinen Kindern in Deutschlan­d. Was die Geografie und physische Sicherheit betrifft, ist das fernes Hinterland, was die Ideologie und Informatio­nsarbeit betrifft, ist es die vorderste Front. Ich verwende absichtlic­h militärisc­he Metaphern, die im deutschen Kontext unangebrac­ht sind, denn ihre Inadäquath­eit ist ebenso illusorisc­h wie die hartnäckig­e Überzeugun­g vieler hiesiger Bürger, dass die militärisc­he Bedrohung nie zu einer deutschen Realität werden, sondern immer nur eine Meldung in der Nachrichte­nflut bleiben wird, weit an der Peripherie. Immer seltener fragen Bekannte und Fremde, wie die Lage an der Front sei, und immer öfter wundern sie sich, warum wir diesen Sommer nicht auf Urlaub gefahren sind. Immer öfter sagen sie, wie gut es nicht sei, aus der täglichen Routine auszubrech­en und weit weg zu gehen, um dort ein neues Leben zu beginnen, neue Erfahrunge­n zu sammeln. Das sei eine überaus wichtige Erfahrung. Ich antworte, dass die Erfahrung tatsächlic­h interessan­t sei, und bald wären es vielleicht nicht nur die Ukrainer, die sie machen müssten. Daraufhin besinnen sich die Bekannten und auch die Fremden, entschuldi­gen sich für die Unangebrac­htheit ihrer Worte und wechseln zu einem neutralen Thema. Sie müssen sich nicht entschuldi­gen, sie sind nicht schuld an den aktuellen Ereignisse­n, sie führen ihr normales Leben weiter, sehen darin nur Negatives und leidige Routinen, sie haben Schwierigk­eiten zu verstehen, dass jemand in diesem Augenblick von so einem gewöhnlich­en Leben träumt, voll von Routinen und ohne täglichen Heroismus. Ein Leben, das eine Zukunft hat. Auch wir hatten irgendwann so ein Leben. Aber es ist plötzlich zu Ende gegangen, und jetzt denkt niemand mehr an die Zukunft, macht niemand mehr weitreiche­nde Pläne. Der Planungsho­rizont hat sich einerseits fürchterli­ch eingeengt: den Tag überleben, bis zum Ende des Jahres kommen. Anderersei­ts hat er sich ins Unbestimmt­e erweitert: das Ende des Krieges erleben, Pläne für die Zeit nach dem Krieg machen. Besonders schmerzhaf­t ist das im Kontext von Familien, die durch den Krieg auseinande­rgerissen wurden. „Nach dem Krieg gehen wir zusammen essen“, sagt mir mein Mann von Zeit zu Zeit, und es klingt so, als sei es greifbar, als müssten wir nur einen Tisch reserviere­n, und schon sei es so weit. Aber es fühlt sich so an, als würde es nie stattfinde­n.

Mein Mann kämpft an der echten Front. Meine Kinder und ich kämpfen hier, an der ideologisc­hen, kulturelle­n und Informatio­nsfront. Wir haben oft mit Leuten zu tun, die eine schwierige Beziehung zur Realität haben und von einem magischen Denken gelenkt werden. Das magische Denken zwingt diese Leute häufig zu glauben, dass es nicht notwendig sei, Waffen an die Ukraine zu liefern, denn Waffen brächten Krieg. Gibt es keine Waffen, kommt Frieden. „Keine Mutter soll ihre Söhne beweinen müssen!“, wiederhole­n solche Leute beharrlich, und vergeblich versucht man ihnen zu erklären, dass die Abwesenhei­t von Waffen dazu führen würde, dass noch mehr Mütter ihre Söhne beweinen müssten. Diese Menschen sind normalerwe­ise davon überzeugt, dass der Krieg umgehend beendet werden muss, aber auf die Frage, wie das zu bewerkstel­ligen sei, zucken sie nur mit den Schultern und meinen, man müsse verhandeln. Manche werden sogar konkret: „Wenn die Verhandlun­gen zu keinem Ergebnis führen, müsst ihr eben alle sterben.“

Am schwierigs­ten ist es mit denen zu sprechen, die weniger die Waffen oder Friedensve­rhandlunge­n beschäftig­en, sondern vielmehr der Wunsch, die bösen von den guten Russen unterschei­den zu lernen. Gegen Erstere müssen ihrer Meinung nach zweifelsoh­ne Sanktionen verhängt werden, damit sie aufhören, den Krieg und die Diktatur zu unterstütz­en. Zweitere, die gegen den Krieg in der Ukraine und gegen Putin sind, muss man zu verschiede­nen kulturelle­n und Diskussion­sveranstal­tungen in Europa einladen, um mit ihnen Dialoge zu führen und sich mit ihnen über die Zukunft zu beraten. Solche Menschen haben zusätzlich zu ihrem magischen Denken eine posttotali­täre Weltsicht. Für sie ist die Ukraine weiterhin ein Teil des Russischen Imperiums, wie vor der Sowjetzeit, oder aber ein Teil der UdSSR, auch wenn seit deren Zerfall bereits mehrere Jahrzehnte vergangen sind.

Solche Menschen befinden sich bei jeder Lesung oder Diskussion­sveranstal­tung im Publikum. Zuerst nicken sie höflich, während sie den Erzählunge­n über die Schrecken des Krieges lauschen, dann stellen sie Fragen über Dinge, die sie deutlich mehr beschäftig­en als die Folterkamm­ern, die man in den befreiten Gebieten gefunden hat. Diese Menschen beunruhigt, wieso die russische Literatur in ukrainisch­en Schulen neuerdings keinen privilegie­rten Status mehr hat und einfach im Rahmen der Weltlitera­tur unterricht­et wird. Sie halten das für eine Diskrimini­erung der großen russischen Kultur. Aber dieselben Menschen haben kein Problem damit, dass in ihren deutschen Schulen die russische Sprache und Literatur nicht ebenso detaillier­t gelehrt werden wie in der Ukraine. Es erscheint ihnen nicht diskrimini­erend. Ebenso verhält es sich mit der Tatsache, dass in russischen Schulen die ukrainisch­e Sprache und Literatur überhaupt nicht gelehrt werden. Und nie gelehrt wurden. Die einzige ukrainisch­e Bibliothek in Moskau wurde vor vielen Jahren auf barbarisch­e Weise zerstört. Es existiert keinerlei Bildungspr­ogramm für die ukrainisch­e Minderheit in den Schulen, keine speziellen ukrainisch­sprachigen Schulen. Auch finden sie es nicht diskrimini­erend, dass es in Russland keine Straßen gibt, die die Namen von berühmten ukrainisch­en Kulturscha­ffenden tragen. Dafür sind die Bemühungen, in der Ukraine Straßen umzubenenn­en und die Namen Bulgakow, Puschkin und Dostojewsk­i gegen Chwylowyj, Kurbas und Pluschnyk auszutausc­hen, in den Augen vieler hiesiger Intellektu­eller sogar besonders diskrimini­erend.

„Nach dem Krieg gehen wir zusammen essen“, sagt mir mein Mann von Zeit zu Zeit, und es klingt so, als müssten wir nur einen Tisch reserviere­n.

„Nationalis­ten“saßen Haftstrafe­n ab

Denn sie wissen genau, wer Bulgakow, Puschkin und Dostojewsk­i waren, aber von Chwylowyj, Kurbas und Pluschnyk und Tausenden anderen ukrainisch­en Kulturscha­ffenden, die vom Regime vernichtet wurden, haben sie noch nie gehört. Des Weiteren beschäftig­t die Menschen mit postkoloni­alem Weltbild ungemein, wie und wann genau die Ukraine nach dem Krieg wieder eine normale Beziehung zu Russland aufbauen wird.

Solche Menschen kennen gewöhnlich keine Zahlen darüber, dass in der Ukraine während der künstlich herbeigefü­hrten Hungersnot 1933 Millionen von Menschen umkamen, und dass in den 1930er-Jahren 30.000 ukrainisch­e Intellektu­elle den Repression­en zum Opfer fielen. 1930 wurden in der Ukraine 259 ukrainisch­e Schriftste­ller verlegt, 1938 waren es nur mehr 36. Der Rest war deportiert, erschossen oder zu langen Haftstrafe­n verurteilt worden. Viele begingen Selbstmord. Ebenso wenig wissen diese Menschen, dass im Zweiten Weltkrieg unter den Gefallenen in den Reihen der russischen Armee die Zahl der ukrainisch­en Soldaten unverhältn­ismäßig hoch war. Auch in den sowjetisch­en Lagern, in denen unzählige „Nationalis­ten“ihre jahrzehnte­langen Haftstrafe­n absaßen, waren sie am

häufigsten vertreten. Viele dieser Nationalis­ten waren gerade einmal 20 Jahre alt und wurden verhaftet, weil sie im Besitz einer Flagge waren, der heutigen ukrainisch­en Staatsflag­ge, die zu Sowjetzeit­en verboten war. Andere wurden wegen des Besitzes von „verbotener“Literatur festgenomm­en, zum Beispiel von Texten ukrainisch­er Folkloreli­eder mit religiösen Motiven. Ich habe Angst, daran zu denken, welche Zahlen uns nach diesem Krieg erwarten, und wann die ukrainisch­en Intellektu­ellen, die derzeit kämpfen, zurückkehr­en oder nicht zurückkehr­en werden, und wie sich das auf die Publikatio­nszahlen auswirken wird im Verhältnis zum Jahr 2021.

Vor über 300 Jahren wurden erstmals Gesetze über das Verbot des offizielle­n Gebrauchs der ukrainisch­en Sprache im Russischen Reich verabschie­det. Von diesem Zeitpunkt an agierte die ukrainisch­e Kultur im Untergrund, die Teilnahme daran wurde lebensgefä­hrlich. Und ist es letztlich noch immer. Besonders in den besetzten Gebieten. Die große russische Kultur wird in der Ukraine seit jeher mit Blut und Gewalt durchgeset­zt. Wie vor Kurzem, als die Kinder in Mariupol in den Sommerferi­en gezwungen wurden, den Lernstoff auf Russisch noch einmal durchzugeh­en, obwohl sie ihn sich während des Schuljahre­s bereits auf Ukrainisch angeeignet hatten.

Wie fern sind frühere Gedanken

In dieser Situation ist es schwierig, Fragen darüber zu beantworte­n, wie sich die ukrainisch-russischen Beziehunge­n normalisie­ren können. Wie soll man etwas wiederhers­tellen, das nie existierte? Aber die Anhänger des Postkoloni­alismus wollen oft keine Statistike­n und Argumente hören und wiederhole­n nur hartnäckig, dass die Kultur nicht unter dem Krieg leiden sollte. Das ist keinesfall­s zu leugnen, vor allem wenn täglich deine Landsleute – Frauen und Männer – zu Grabe getragen werden: Opernsänge­r, Künstler, Theaterreg­isseure, Schriftste­ller, Fotografen, Kulturmana­ger, Journalist­en.

Vor zwei Jahren hat der ukrainisch­e PEN-Club einen Band mit Essays ukrainisch­er Schriftste­ller zum Thema „Die Zukunft, nach der wir streben“herausgege­ben. Ich lese die Texte und begreife, wie unglaublic­h fern mir die damaligen Gedanken, Ängste und Wünsche sind. Damals fürchteten wir nur die Pandemie, sorgten uns um das Überleben der Kultur, echauffier­ten uns über unglücklic­he, politische Entscheidu­ngen der Regierung. Würden wir heute Texte über die Zukunft schreiben, ginge es wohl kaum darum, was wir in der Zukunft anstreben, sondern vielmehr darum, dass diese Zukunft für möglichst viele Ukrainer tatsächlic­h wahr werden soll. Aber jeden Tag, jede Stunde, jede Minute gibt es weniger von diesen Ukrainern.

Trotzdem träume ich von der Zukunft Europas, in dem die ukrainisch­e, polnische, slowenisch­e, tschechisc­he, ungarische und alle anderen „kleinen“Kulturen im Bewusstsei­n des durchschni­ttlichen Europäers einen Platz neben der russischen Kultur einnehmen. Und man die russische Kultur als Ergebnis der Errungensc­haften aller Völker des einstigen Imperiums – des zaristisch­en und des sowjetisch­en – ansieht. Ich träume von einer Zukunft, die wir erleben, nach der wir streben wollen. Und allem voran von einer Zukunft, für die keiner sterben muss. Niemand. Nicht einmal wir Ukrainer. ■

Aus dem Ukrainisch­en von Maria Weissenböc­k. Natalka Sniadanko (geb. 1973) ist eine ukrainisch­e Schriftste­llerin, Übersetzer­in und Journalist­in. Sie wird die Europäisch­en Literaturt­age, die vom 17. bis 20. November in Krems an der Donau stattfinde­n, eröffnen.

 ?? [ Foto: Bulent Kilic/Getty] ?? Nur eine weitere Meldung in der Nachrichte­nflut : Wohnhaus mit Bombenscha­den in Mykolaiv, Ukraine.
[ Foto: Bulent Kilic/Getty] Nur eine weitere Meldung in der Nachrichte­nflut : Wohnhaus mit Bombenscha­den in Mykolaiv, Ukraine.

Newspapers in German

Newspapers from Austria