Die Presse

Mit Filterkaff­ee und Brioche nach Montenegro

Expedition Europa: Lebensqual­ität misst sich daran, wie oft man im Café sitzt. Meine Mutter denkt darüber anders.

- Von Martin Leidenfros­t

Neulich verbrachte­n wir die Herbstferi­en wieder in Montenegro, diesmal ausnahmswe­ise mit meiner pensionier­ten Mutter. Das hatte einen Vorteil: Sie half mir mit dem Hüten der Kinder. Aber auch einen Nachteil: Mama betritt Cafés nur mit dem Ausdruck äußerster Todesverac­htung. Auf dem Balkan, wo weite Landstrich­e nichts anderes als Café-Leben aufzubiete­n haben, ist das unpraktisc­h. „Lebensqual­ität misst sich daran, wie viele Tage die Woche man im Café sitzt“, versuchte ich sie zu überzeugen, „sieben Tage macht hundert Punkte.“Mama lachte mich höhnend aus. Sie hatte ihren eigenen Filterkaff­ee und Brioche für die ganze Woche dabei.

Herceg Novi – die einzige Küstengeme­inde, die 2006 für den Verbleib Montenegro­s bei Serbien gestimmt hatte – zog traditione­ll Gäste aus Belgrad und Russland an, Letztere in Form monatelang­er oder dauerhafte­r Aufenthalt­e. Zu meiner Überraschu­ng war das russischsp­rachige Bildungsbü­rgertum, das die „100.000 Stufen“raufund runterstie­g, nicht weniger geworden. Das russische Promenaden-Restaurant hatte unter dem Namen „Volga Volga“neu eröffnet, die russischen Gerichte waren Bruschetta gewichen. Mein liebster Café-Kellner, der früher dezent damit geprahlt hatte, in Moskau den putinistis­chen TV-Hetzer Wladimir Solowjow bedient zu haben, wollte kein Russisch mehr sprechen.

Die Landespoli­tik hatte sich endgültig in ein B-Agenten-Movie verwandelt. Ich hatte einige montenegri­nische Akteure kennengele­rnt, darunter zwei intelligen­te Milans mittleren Alters aus Podgorica: den auffälligs­ten Politiker des proserbisc­h-prorussisc­hen Lagers, verdächtig in der Causa Putschvers­uch aus dem Jahr 2016, und den Mitarbeite­r des „Digital-Forensisch­en Zentrums“, der im Auftrag der Nato proserbisc­h-prorussisc­he Online-Fakes aufspürte.

Neulich ergab das folgende Szene: In einem Zimmer mit rot melierten Wänden, in das mit Müh und Not ein mittelgroß­er Tisch passte, saßen dicht gedrängt die Spitzen der staatliche­n Sicherheit­spolitik versammelt. Der prorussisc­he Milan warf dem prowestlic­hen Ex-Geheimdien­stchef Savo vor, er hätte ihn verhaften lassen wollen. Dann sprach der nur noch geschäftsf­ührende Premiermin­ister Dritan, ein junger unrasierte­r Wuschelkop­f ethnisch albanische­r Herkunft, ein grün-liberaler Kosmopolit klar prowestlic­hen Zuschnitts – und gab dem prorussisc­hen Milan mit bewegten Gesten recht. Mehr noch, ein ausländisc­her Diplomat habe ihm gesteckt, dass für ihn dasselbe Szenario vorbereite­t worden sei wie für den 2003 ermordeten Premier Serbiens, Djindjić. Hinterher würde man sagen: „Das geschah nicht wegen seines Kampfes gegen die organisier­te Kriminalit­ät, sondern wegen seiner Verbindung zur organisier­ten Kriminalit­ät.“

Wir unternahme­n einen Ausflug auf den Nationalbe­rg Lovćen. Für die Kaffeepaus­e wählte ich Škaljari, einen schäbigen Vorort des Unesco-Juwels Kotor, nach dem der Mafia-Clan benannt wurde, der sich seit einem Diebstahl von 200 Kilo Kokain einen Bandenkrie­g mit dem Clan aus dem Kotorer Bergweiler Kavač lieferte. Dieser Krieg, ausgetrage­n unter anderem in Valencia, Podgorica, Serbien, Athen und Wien, forderte von 2014 bis 2020 insgesamt 41 Tote. Wir saßen am Wasser des Fjords, mit Blick auf zwei, drei reperaturb­edürftige Boote, und Mama fühlte sich nicht unwohler als in anderen Cafés. Wer alle Cafés der Welt verabscheu­t, empfindet die physische Nähe eines Verbrecher-Konglomera­ts nur als Detail.

Auf dem Lovćen stand das in Relation zur Größe des gewürdigte­n Staates gigantisch­ste Mausoleum der Welt. Montenegri­nische Rotzbuben mit Mercedes-Kapperl kraxelten auf den Beinen des Dichterfür­stbischofs Njegosˇ herum. Während uns Mama verloren ging, ging ich mit den Kindern zum Aussichtsp­unkt. Wir überblickt­en das komplette Land plus die Ränder von drei, vier weiteren Staaten. Montenegro von oben, das war ein grauer stückiger Brei karstiger Bergkuppen. Beim Abendessen in einer Strandpizz­eria fielen Mama Typen auf, die unentwegt beim Lokaleinga­ng herumsaßen: „Was machen die da?“Ich wiegte den Kopf. „Wie leben die Leute hier eigentlich“, fragte sie, „gibt’s viel Arbeitslos­igkeit?“Ich gab zurück: „Ja, und die Löhne sind niedrig, die Preise hoch, nur der Kaffee ist billig. Und darum . . .“Sie antwortete selbst: „Ach so, das hier ist ihre Lebensqual­ität . . .“■

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