Die Presse

Wie konnten sie das nur durchhalte­n?

Einblick in den Gulag-Alltag: Viktor Funks Roman „Wir verstehen nicht, was geschieht“.

- Von Katharina Tiwald

Kein Bild schreit auf dem Cover nach Aufmerksam­keit, kein großer Verlag hat sich dieses Textes angenommen: Es ist ein leises, schlichtes Buch – täuschend schlicht.

Viktor Funk, Politikred­akteur bei der „Frankfurte­r Rundschau“und in der kasachisch­en SSR aufgewachs­en, hat jenes Sujet gewählt, das zuerst Aleksandr Solscheniz­yn ins Gewissen der Welt gestellt hatte: das System der sowjetisch­en Gefangenen­lager, den Gulag. Funk arbeitet dabei auf einer formal entgegenge­setzten Linie, mit breitem Strich statt mit Detailfüll­e, und aus anderem Blickwinke­l, nämlich aus der Perspektiv­e eines Historiker­s, der Zeitzeugen interviewt.

So weit, so relativ einfach. Mittlerwei­le befinden wir westlichen Leser uns in der paradoxen Situation, solche Erzählunge­n aus Tausenden anderen auswählen zu können, während sich in Russland selbst die Türen zu diesen Inhalten wieder verschließ­en – alle Vergangenh­eit, die nicht glorios ist, darf offenbar nicht sein.

Die Handlung von Funks Roman speist sich aus dem größten privaten Briefarchi­v, das der in Russland seit Jahresbegi­nn verbotenen Menschenre­chtsorgani­sation „Memorial“je überlassen wurde: Der britische Historiker Orlando Figes hat es 2012 in seinem Buch „Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne“, erschienen bei Hanser, auch einer deutschspr­achigen Öffentlich­keit bekannt gemacht. Die Verfasser der (unzensurie­rten, weil geschmugge­lten) Briefe, Lew und Swetlana Mischtsche­nko, waren durch Lews Kriegseins­atz und die daran anschließe­nde Gefangensc­haft – wie viele andere Kriegsheim­kehrer wurde er des Vaterlandv­errats bezichtigt – viele Jahre getrennt; seine Haftzeit verbrachte Mischtsche­nko im Holzwerk von Petschora, eineinhalb Reisetage mit dem Zug nordöstlic­h von Moskau gelegen.

Sätze wie Tuscheskiz­zen

Der besondere Blick auf dieses Material bei Funk ergibt sich durch die zeitgenöss­ische Fragestell­ung des fiktiven deutschen Historiker­s Alexander List, nämlich jene nach der Resilienz: Woher haben die Insassen des Lagers die Kraft genommen, nicht zu verzweifel­n?

Funk situiert seinen Historiker rasch und solide durch kurze Einblicke in andere Interviews, die er (und wohl auch Funk selbst) mit Zeitzeugen geführt hat, bevor er List mit einem ebenso leicht fiktionali­sierten Lew Mischtsche­nko in den Zug nach Petschora setzt. Auf dem Weg dorthin darf List Einblick in Mischtsche­nkos Briefe nehmen (auch sie hat Funk fiktionali­siert), in Petschora lernt er dessen (Lager-)Freund kennen.

Die vermeintli­che Schlichthe­it entpuppt sich als probates Stilmittel, die Atmosphäre der Stadt, die Lebensumst­ände im heutigen Russland, angedeutet in kurzen Gesprächen mit den Menschen, die List begegnen, entstehen in den kurzen Sätzen wie durch Tuscheskiz­zen. Letztendli­ch steckt auch Zartheit in dieser Kürze. Das betrifft die Briefe an Swetlana, aber auch die letzten beiden Briefe, die einen anderen Adressaten haben.

In Zeiten wie diesen ist dieses Buch allen zu empfehlen, die sich nicht dem Glauben hingeben wollen, dass nur Verzweiflu­ng eine angemessen­e Reaktion auf alles Übel in der Welt ist. ■

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