Wie konnten sie das nur durchhalten?
Einblick in den Gulag-Alltag: Viktor Funks Roman „Wir verstehen nicht, was geschieht“.
Kein Bild schreit auf dem Cover nach Aufmerksamkeit, kein großer Verlag hat sich dieses Textes angenommen: Es ist ein leises, schlichtes Buch – täuschend schlicht.
Viktor Funk, Politikredakteur bei der „Frankfurter Rundschau“und in der kasachischen SSR aufgewachsen, hat jenes Sujet gewählt, das zuerst Aleksandr Solschenizyn ins Gewissen der Welt gestellt hatte: das System der sowjetischen Gefangenenlager, den Gulag. Funk arbeitet dabei auf einer formal entgegengesetzten Linie, mit breitem Strich statt mit Detailfülle, und aus anderem Blickwinkel, nämlich aus der Perspektive eines Historikers, der Zeitzeugen interviewt.
So weit, so relativ einfach. Mittlerweile befinden wir westlichen Leser uns in der paradoxen Situation, solche Erzählungen aus Tausenden anderen auswählen zu können, während sich in Russland selbst die Türen zu diesen Inhalten wieder verschließen – alle Vergangenheit, die nicht glorios ist, darf offenbar nicht sein.
Die Handlung von Funks Roman speist sich aus dem größten privaten Briefarchiv, das der in Russland seit Jahresbeginn verbotenen Menschenrechtsorganisation „Memorial“je überlassen wurde: Der britische Historiker Orlando Figes hat es 2012 in seinem Buch „Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne“, erschienen bei Hanser, auch einer deutschsprachigen Öffentlichkeit bekannt gemacht. Die Verfasser der (unzensurierten, weil geschmuggelten) Briefe, Lew und Swetlana Mischtschenko, waren durch Lews Kriegseinsatz und die daran anschließende Gefangenschaft – wie viele andere Kriegsheimkehrer wurde er des Vaterlandverrats bezichtigt – viele Jahre getrennt; seine Haftzeit verbrachte Mischtschenko im Holzwerk von Petschora, eineinhalb Reisetage mit dem Zug nordöstlich von Moskau gelegen.
Sätze wie Tuscheskizzen
Der besondere Blick auf dieses Material bei Funk ergibt sich durch die zeitgenössische Fragestellung des fiktiven deutschen Historikers Alexander List, nämlich jene nach der Resilienz: Woher haben die Insassen des Lagers die Kraft genommen, nicht zu verzweifeln?
Funk situiert seinen Historiker rasch und solide durch kurze Einblicke in andere Interviews, die er (und wohl auch Funk selbst) mit Zeitzeugen geführt hat, bevor er List mit einem ebenso leicht fiktionalisierten Lew Mischtschenko in den Zug nach Petschora setzt. Auf dem Weg dorthin darf List Einblick in Mischtschenkos Briefe nehmen (auch sie hat Funk fiktionalisiert), in Petschora lernt er dessen (Lager-)Freund kennen.
Die vermeintliche Schlichtheit entpuppt sich als probates Stilmittel, die Atmosphäre der Stadt, die Lebensumstände im heutigen Russland, angedeutet in kurzen Gesprächen mit den Menschen, die List begegnen, entstehen in den kurzen Sätzen wie durch Tuscheskizzen. Letztendlich steckt auch Zartheit in dieser Kürze. Das betrifft die Briefe an Swetlana, aber auch die letzten beiden Briefe, die einen anderen Adressaten haben.
In Zeiten wie diesen ist dieses Buch allen zu empfehlen, die sich nicht dem Glauben hingeben wollen, dass nur Verzweiflung eine angemessene Reaktion auf alles Übel in der Welt ist. ■