Die Liebe des Schweden zu Soßen von Knorr
In ihrem Roman „Der gewöhnliche Mensch“begleitet Lena Andersson den in den 1930erJahren geborenen Tischler Ragnar durchs Leben. Das ist auch ideengeschichtlich reizvoll.
Ist das jetzt eine glückliche Ehe? Oder eine unglückliche? Glücklich, weil Elisabet und Ragnar „gut miteinander auskommen“, in großem Gleichklang zwei Kinder aufziehen, weil sie dazwischen ausgelassen blödeln können, etwa über das neue Haus, das sie bauen wollen? Es soll in einer von „demokratischen Architekten“geplanten Siedlung nahe Stockholm stehen, jeder Grundstückbesitzer errichtet sein Heim selbst, nach klaren Vorgaben, ohne „Eigensinn“, sogar die Klinken und Briefkästen sollen einander gleichen. „Das ist wie Sandkuchen backen“, sagt Ragnar, aber man „darf ihn nicht mit Likör verfeinern“. Oder eher doch wie eine Ambrosiatorte? „Du meinst die mit Glasur und Apfelsinenstücken?“– „Vielleicht ist es eher ein Rührkuchen.“„Mit Mandeln auf dem Dach!“Und sie lachen und „fühlen sich vereint“.
Oder ist sie unglücklich, diese Ehe, weil Elisabet die Grübeleien von Ragnar für überspannt hält – und er ihre Art verachtet, beim ersten Gedanken, der ihr kommt, hängen zu bleiben? In so vielem sind sie geteilter Meinung: Elisabet kocht gern frisch, mit Butter und Ei, Mehl und Salz. Ragnar dagegen kauft gegen ihren Willen Instantsoßen – und wenn Elisabet sie dann zubereitet, mürrisch, aber man wirft ja nichts weg, schwärmt er: „Was für eine köstliche Soße von Knorr.“
„Volksheim“– Utopie der Gleichheit
Dabei schmeckt sie ihm gar nicht so besonders. Und er schwärmt auch nicht aus Bequemlichkeit für Packerlsuppen, schließlich steht, wir sind in den 1970er-Jahren, doch stets die Frau am Herd. Nein, es sind politische Erwägungen: „Der moderne Mensch hatte sich die Natur mithilfe der Technik nutzbar gemacht, das Essen in seine Bestandteile zerlegt und es in Form einer praktischen Packung voll Pulver neu erschaffen. Kontrollierbar, leicht nach Hause zu tragen, einfach zuzubereiten, demokratisch.“Ragnar ist so ein „moderner Mensch“. Er träumt den schwedischen Traum von der Machbarkeit. Und wenn Lena Andersson uns in ihren nüchternen, meist knappen Sätzen sein Leben nahebringt, angefangen mit der Kindheit in einem beengten Haushalt bis zu seiner Zeit als Pensionist, wenn sie uns sein Ringen um Größe schildert, das er sich dann doch nicht erlaubt, seinen Wunsch nach Einzigartigkeit, der ihm suspekt ist, dann geht es ihr nicht nur um Psychologie, nicht nur darum, wie es sich so anfühlt als Tischler, der in einer Schule Werken unterrichtet, heiratet, ein Haus baut, zwei Kinder aufzieht.
Andersson schreibt damit verknüpft auch eine Ideengeschichte. Im Mittelpunkt steht das „Volksheim“. Das ist kein physischer, sondern ein ideologischer Ort. Laut Per Albin Hansson, der Schweden von 1932 bis 1946 als Ministerpräsident vorstand, und dem im zehnten Wiener Bezirk eine kommunale Siedlung gewidmet ist, gibt es dort keine Privilegierten und keine Benachteiligten mehr, „keiner versucht sich auf Kosten anderer Vorteile zu verschaffen, der Starke unterdrückt nicht den Schwachen“. Das „Folkhemmet“steht für eine Utopie der Gleichheit, Fürsorglichkeit, Zusammenarbeit und Hilfsbereitschaft, das Ziel ist eine Gesellschaft ohne soziale Schranken.
Der Tischler Ragnar, in kleinbürgerliche Verhältnisse geboren, glaubt an diese Utopie. Und lange Zeit scheint es, als könnte sie Wirklichkeit werden, als könnten die schmucklosen Quader der demokratischen Architekten die Menschen begeistern und die Packerlsuppen die Frauen befreien. Ja, Lena Andersson hat, bei aller Empathie für ihren Ragnar, auch Witz. „Es waren wunderbare Jahre“, schreibt sie: Schweden hatte „die geringsten Lohnunterschiede, den größten Filmregisseur, die vorderste Kinderbuchautorin, den besten Slalomläufer, Tennisspieler und die beste Popband, die beeindruckendste Gleichberechtigung“. Wie schön. Ragnar ist glücklich.
Aber schon verdunkelt sich das Bild: Olof Palme steht Ragnar nicht so ganz zu Gesicht, schon die Tatsache, dass der Ministerpräsident die Sommer in einer Hütte ohne Stromanschluss verbringt, erscheint ihm fragwürdig. Nur jene, die keine Armut kennen, verzichten freiwillig auf solch einfachen Luxus, meint er. Langsam verlassen die Familien, die gleichzeitig mit ihm und seiner Frau in die Reihenhaussiedlung gezogen sind, das „Paradies“. Flüchtlinge nehmen ihren Platz ein. Elisabet will fort, in eine bürgerlichere Umgebung, Ragnar beharrt darauf zu bleiben.
Die Kinder sollen Sportler werden
Nein, es läuft nicht mehr alles rund, und Ragnar beginnt, einen anderen Traum zu träumen, der noch auf dem alten fußt: Seine Kinder sollen Sportler werden. Der Anfang ist leicht gemacht, körperliche Ertüchtigung und das Vereinsleben gehören zum Volksheim dazu. In der Siedlung gibt es einen Radsportklub, Ragnar steht ihm vor, und auch hier findet Lena Andersson ein kleines Detail, an dem sich ideologische Differenzen festmachen lassen – ebenso Verschiebungen in der sozialdemokratischen Praxis. Ragnar führt eine neue Regel ein: Jene Eltern, die ihre Kinder nicht selbst zu den Wettkämpfen in weiter entfernten Städten bringen, sollen den anderen Kilometergeld zahlen. Jeder hat etwas beizutragen! Keiner darf sich zurücklehnen! Doch was, wenn eine Mutter alleinerziehend ist – und weder Auto noch Führerschein hat? Ragnars Volksheim basiert auf der Verantwortung jedes Einzelnen. Mitleid hat hier keinen Raum, ja er verbietet wohlhabenderen Eltern sogar, fremde Kinder gratis mitzunehmen – was die sich irgendwann auch nicht bieten lassen. Warum denn nicht? Benzin zahlen sie doch sowieso? Es ist bequemer. Ist es nicht oft bequemer, sich mit Geld quasi freizukaufen, statt Teilhabe zu ermöglichen und einzufordern? Was kann, was darf die Gesellschaft vom Einzelnen verlangen? Ragnar scheitert. Er scheitert noch oft in den nächsten Jahren, politisch, privat: Seine Tochter, die das Zeug zur Top-Sportlerin hat, schert aus auf dem Weg zur Spitze. Zu hoch sind die Ideale des Vaters, seine Unerbittlichkeit zu groß.
„Der gewöhnliche Mensch“ist ein Buch über uns alle als Geschöpfe der Zeit und ihrer Vorstellungen, über unsere Träume, die kleiner werden, bis sie zu uns passen. Und auch über einen Optimismus, den so mancher von uns kennt: Haben wir nicht irgendwie geglaubt, die Geschichte kenne nur eine Richtung? Hin zu mehr Demokratie, mehr Menschenrechten? Ragnars Enttäuschung ist bitter. Aber letztlich passt er sein Leben den neuen Begebenheiten an – und wirft die Strenge über Bord: Er trinkt Rotwein zum Essen und Whiskey vor dem Zubettgehen, und seine Möbel verziert er mit Blumen.
Die demokratischen Architekten würden sich im Grab umdrehen. ■
Von Bettina Steiner