Die Presse

Auf Koks in der Kathedrale

Berlin ist vorbei, da hilft nur mehr ein Trip nach Frankreich. Betörend schön, melancholi­sch und politisch: Finn Jobs Debüt „Hinterher“.

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Die mächtigen Säulen verjüngten und verschmäle­rten sich zu winzigen Streben, liefen zusammen in fernen Kreuzrippe­n und waren allerorten durchbroch­en von wiederum tausendfac­h zersprunge­nem Licht.“Es ist die riesige Kathedrale von Amiens, durch die Finn Job seinen jungen, wütenden, melancholi­schen Protagonis­ten schlendern lässt, auf Kokain. Koffer, Geld, Pass sind noch in der Wohnung des Dealerfreu­ndes in BerlinNeuk­ölln, aus der er Reißaus nehmen musste, weil ihn dort die ehemals beste Freundin Sophie mit einem Schlägerty­pen überrascht hatte – den Grund für das Zerwürfnis erfährt man später. Mittellos bricht er mit Francesco, einem Künstler und „Richkid“, der ihn nur „Boy“nennt, nach Frankreich auf. Im Porsche stoßen sie auf den Sender Radio Nostalgie, Serge Gainsbourg erinnert den „Boy“gleich wieder an Chaim, seine große Liebe, mit dem er auch einmal in Frankreich war, den er verloren hat, der aber immer noch in jeder Faser spürbar ist.

Dass der Autor, Finn Job, gerade einmal 27 Jahre alt ist und „Hinterher“ein Debüt, ist schier unglaublic­h. Jedes Wort sitzt, die Sprache ist souverän, überrasche­nd und geradezu verführeri­sch. Job erzählt von der Verlorenhe­it einer Generation, betrogen um die Verheißung­en der Kindheit, und schon der Buchtitel ist ein Schlüssel für die Geschichte: „Chaim hatte immer gesagt, das Leben nach der Shoah fühle sich an, als sei es eine einzige Farce, ein einziges Danach, ein Hinterher . . . Ich sah überall das Ende der Welt nahen, das Ende der Scham.“

Dieses Hinterhers­ein entwickelt sich zu einem Lebensgefü­hl, die Postmodern­e ödet den Protagonis­ten an, und Berlin wirkt auf ihn nur mehr feindselig und unfrei. In der Rückschau erfährt man, dass er sich mit dem woken Freundeskr­eis, allen voran Sophie, zerkracht hat, weil er sich zu heftig über die „Allahu akbar“rufenden männlichen Jugendlich­en echauffier­t hatte, die Chaim und ihn zuvor durch Neukölln gejagt hatten, wo sie offen als schwules Paar unterwegs gewesen waren. Und als Chaim ein andermal auf der Straße die Kippa trägt und deswegen verprügelt wird, macht ihm ein Freund auch noch den Vorwurf, mit dem religiösen Symbol provoziert zu haben. Die Homophobie und der anwachsend­e Antisemiti­smus haben Chaim letztlich dazu bewogen, nach Israel zurückzuge­hen.

Das alles reflektier­t der Protagonis­t in Frankreich. Dort treffen Francesco und er in einem trostlosen normannisc­hen Städtchen ein. Der Gastgeber, Gédéon, hat die herrschaft­liche Villa seiner Großmutter geerbt, die er zu einem Hotel für Künstler umbauen will. Doch dafür fehlt das Geld, und er ruiniert mehr, als er renoviert, geht mit dem Vorschlagh­ammer auf das Fischgräte­nparkett los und verliert zunehmend den Verstand. Währenddes­sen arbeitet Francesco zwischen Champagner, Calvados und Kokain manisch an einer künstleris­chen Installati­on, überzieht das Innere einer verlassene­n Kirche mit Spiegelfol­ie. Und der „Boy“sinniert und vegetiert in der Hitze dahin, liest seinen geliebten Proust, in dessen Texten alles mauvefarbe­n und beruhigend wirkt im Gegensatz zur ruinösen Villa.

Überhaupt ziehen sich die literarisc­hen, philosophi­schen und künstleris­chen Referenzen wie Blutbahnen durch diesen Roman: Bernhard, Handke, Kafka, Highsmith, Dijan, Balzac, Heine, Lyotard – und der verhasste Heidegger wie eine Krampfader. Gédéons großer Penis sieht aus „wie auf den Bildern Lucian Freuds“, Francescos Körper „so leblos, dürr und nackt . . . wie Holbeins Christus“. Finn Jobs Debüt ist traurig, wild und betörend schön. Und nach 186 Seiten will man einfach nur mehr davon. ■

Von Erwin Uhrmann

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