Das Blut pulsiert und bebt
Für Jean-Luc Nancy ist der Körper etwas, das sich immer aufs Neue hervorbringt. In „Cruor“, Nancys letztem Werk, bedient sich der Philosoph waghalsiger Etymologien und einer verspieltmanierierten Sprache.
Cruor bezeichnet in der Medizin postmortal geronnene zelluläre Blutbestandteile. So weist das interessante, weil unbekannte Wort auf Blut, Körper und Tod, aber auch auf ein biografisches Moment hin: Dem schwer kranken Autor ist der Tod nahegekommen – nicht zum ersten Mal. Es ist Jean-Luc Nancys letztes, posthum erschienenes Buch. Der langjährige Weggefährte von Jacques Derrida stirbt am 23. August 2021, knapp nach der Fertigstellung des Manuskripts. Ein letztes Mal philosophieren. Mit dem fremden eigenen Körper hat sich Nancy lange zuvor in „Corpus“, aber auch in „L’Intrus“(„Der Eindringling“) beschäftigt, indem er seine Herztransplantation einer beklemmend exakten Analyse unterzieht: Das fremde Herz einer jungen schwarzen Frau wird Teil des eigenen Körpers, der schon zuvor als fremd wahrgenommen wurde, als Fremdkörper.
Der essayistische Stil des Buches ist zunächst einer dekonstruktivistischen Rhetorik geschuldet: In ihr dominiert nicht selten ein orakelhafter, apodiktischer und verspielt-manierierter Sprachgebrauch, der sich an ein vertrautes Publikum richtet. Dem entspricht die Technik, wichtige Stichworte aus dem OEuvre, insgesamt 22, wie in ein Lexikon einzutragen: „Drang, Trieb, Rhythmus, Selbst, Du, Instanz, Verherrlichter Leib, Matrix, Selbst/Es“. Das lose Strickmuster erweckt aber auch den Eindruck des Unfertigen, als ob der nahende Tod das Projekt beschleunigt und verkürzt hätte.
Für Nancy ist der Körper nicht Objekt, sondern Rhythmus, etwas, das sich in ständiger Kreislaufbewegung immer aufs Neue hervorbringt. Unaufhörlich dehnt sich der Körper aus. Sein Medium ist das Blut, Wasserscheide von Leben und Tod. Damit kommt auch jenes Blut ins Spiel, das vergossen wird. Wie Heidegger und Derrida operiert Nancy mit waghalsigen Etymologien und Wortspielen. So wird das geronnene Blut, der angeblich aus dem Altindischen stammenden Cruor (Fleisch), in die Nähe von crude (grob, roh) und damit zur Grausamkeit (Crudelitas) gerückt und mit dem altgriechischen kreas (Fleisch) eng geführt, das Thema des Lexikoneintrags Opfer ist. So spannt dieses Opus ultimum einen großen Bogen vom dynamischen, vom Blut durchfluteten Körper über die heute so aktuelle Identitätsfrage bis zum Unbehagen an der postmodernen kapitalistischen Gesellschaft.
Blut ist Basis und Metapher für das Leben, das immer aus einem ihm eigenen Antrieb geschieht. Nicht nur Drang und Trieb verortet Nancy bereits im Somatischen, sondern auch jenes ungreifbare Selbst, das dem gedanklichen Selbstbezug vorausgeht. Dieses ist freilich ein paradoxes Phänomen, das sich vom Ich unterscheidet. Wie schon sein früher Lehrmeister Paul Ricoeur beharrt Nancy auf der Differenz von Selbst und das Selbe sowie auf der Nicht-Identität des Selbst. Das Selbst, „sprachlicher Missbrauch“, ist „Identität an sich“, „das Selbe Identität für ein Anderes“.
Derartige paradoxe Umschreibungen der Identität sind uns aus dem französischen Kontext vertraut. Originell an Nancy Vorgangsweise ist indes, dass er sie in den Bereich des Psychosomatischen und damit des Unbewussten verlagert. Er schlägt, Groddeck, aber auch Nietzsche folgend, vor, dieses merkwürdig ungreifbare Selbst mit dem Freud’schen Es gleichzusetzen oder es mit Schopenhauer als ein uneinholbares quasi-kantisches Ding zu verstehen: „Das Ding an sich ist der Trieb.“
Nancy verweist auf eine späte, für Freud eher ungewöhnliche Notiz, in der es heißt: „Mystik, die dunkle Selbstwahrnehmung außerhalb des Ichs, des Es.“Im Mythos wiederum nimmt sich das Wort des Triebes an. Jedes Selbst, jedes Es, muss für sich eine Erzählung finden. Nancy erinnert an die „tautegorische“Definition des Mythos durch den späten Schelling, der den Mythos als einen Kosmos bestimmt, der vor allem von sich spricht. Die Unüberwindbarkeit der Mythen besteht demzufolge darin, „dass sie unsere Triebe sind“. Das Es hat ein Bewusstsein, das sich freilich nur indirekt, eben als Unbewusstes, zeigt. Im Anschluss an Freuds Überlegungen zu Leonardo da Vinci heißt es in einer wunderbaren Pointe, dass dieser „vielleicht malte, um das Schweigen zu verzaubern“.
Im letzten Teil des Buches schwingen die Gedanken des Autors zum Thema des Blutigen zurück. Dabei rückt die dunkle gewaltsame Seite in Gestalt des Opfers und einer archaisch (miss)verstandenen Grausamkeit etwas apodiktisch und affirmativ ins Blickfeld: „Der Trieb ist blutig, das Blut pulsiert und bebt.“Das Opfer verwandelt lebendiges Blut in totes Blut.
Die hyperkapitalistische liberale Gesellschaft hat dem Autor zufolge die „Opferhandlungen“„durch den Dienst an ´der Herrschaft“ersetzt. Damit hat sie den Elan vital zerstört und neue, viel schlimmere sekundäre Opfer geschaffen. Dazu passt Nancys an Nietzsche geschulte Kritik am Christentum: Nächstenliebe ist ein illusorischer Zwang, der die Triebdynamik unrettbar zerstört. Habe die Antike den Trieb aus sich selbst heraus bejaht, so legitimiere die Moderne diesen durch das Liebesobjekt. Die These von der Objektlosigkeit des Triebs steht freilich in krassem Widerspruch zu Nancys These von der Alterität des Selbst. Höchst zweideutig kommentiert Nancy die symbolischen Revolte der niederknieenden Demonstranten angesichts des Mordes an George Floyd im Juni 2020: „Die Menschheit befindet sich in der Lage derer, die niederknien, um von der Macht Schonung zu erflehen.“
Im Gegensatz zu Nancys linkem Nietzscheanismus hat Freud nicht nur von den Illusionen des Christentums und des Sozialismus gesprochen, er hat auch gezeigt, weshalb die Menschen Triebe, Lust und Aggression, ihren É lan vital, sublimieren, verschieben und einschränken: nämlich aus dem Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit. Kurzum: Freuds Position ist ambivalent, das gilt, wie etwa seine Texte zu Moses zeigen, auch für das christlich-jüdische Erbe. Ganz unverständlich ist, dass Nancy dem Kommunismus nostalgisch das Projekt zuschreibt, in einem „Körper an Körper“deren „Zusammenstoß“und „der gesellschaftlichen Totalisierung“entgegenzutreten. ■