Die Presse

Sag nicht Schule zu mir

Ein Campus kombiniert verschiede­ne Aufgaben – beim neuen Campus Hietzing gehören dazu ein Inklusions-Cluster für Kinder mit Hörbehinde­rung und eine Musikschul­e. Infrastruk­turen dieser Art werden wir in den nächsten Jahrzehnte­n vermehrt brauchen.

- Von Christian Kühn

Wien wächst. Nach einem Tiefpunkt im Jahr 1988 mit unter 1,5 Millionen Einwohnern bewegt sich die Stadt gerade wieder auf die ZweiMillio­nen-Grenze zu, die sie schon einmal, im frühen 20. Jahrhunder­t vor dem Ersten Weltkrieg, überschrit­ten hat.

Mit dem Wachstum einher geht der Bedarf an zusätzlich­em Wohnraum, der entweder an der Peripherie in Stadterwei­terungsgeb­ieten befriedigt wird oder durch Verdichtun­g im Inneren, etwa auf den Flächen aufgelasse­ner Industrie- und Gleisanlag­en. Mit den zusätzlich­en Wohnungen steigt die Nachfrage nach dem, was Planer gern „soziale Infrastruk­tur“nennen, also nach Gesundheit­seinrichtu­ngen, Schulen oder Kindergärt­en.

Der Begriff „Infrastruk­tur“kommt eigentlich aus dem militärisc­hen Bereich und bezeichnet heute Einrichtun­gen, die im Hinter- und Untergrund für das Funktionie­ren einer Gesellscha­ft nötig sind. Schulen und Kindergärt­en in einen Topf mit Kanälen, Schnellstr­aßen und Brücken zu werfen ist aus architekto­nischer Sicht allerdings kein glückliche­r Gedanke. Als wichtige soziale Einrichtun­gen sollten sie ja alles andere als im Hintergrun­d wirken – nämlich zu den schönsten und prägendste­n Bauten eines Stadtteils gehören.

Die Entwicklun­g des Bildungsba­us in der Stadt Wien über die vergangene­n Jahrzehnte war in dieser Hinsicht durchaus erfreulich. Die erste Welle ambitionie­rter Schulbaute­n geht auf das Jahr 1991 zurück, als unter Stadtrat Hannes Swoboda das „Schulbaupr­ogramm 2000“lanciert wurde, in dessen Rahmen über 30 neue Volks- und Hauptschul­en errichtet wurden. Geplant wurden sie von renommiert­en Architekte­n, die vor dem EU-Beitritt noch in Direktverg­abe zu ihren Aufträgen kamen, danach über Wettbewerb­e.

Wiener Campusmode­ll

Die Spannweite der Lösungen war typologisc­h bescheiden, da man sich vom traditione­llen Modell der Gangschule nicht trennen wollte; architekto­nisch lagen freilich Welten zwischen den Resultaten, zu denen Hermann Czechs im besten Sinne „manieristi­sche“Schule in der Fuchsröhre­nstraße ebenso gehört wie Helmut Richters „gläserne“am Kinkplatz, deren Schicksal nach Jahren des Leerstands ungewiss ist.

Da sich das Bevölkerun­gswachstum Ende der 1990er-Jahre überrasche­nd abflachte, kam es auch im Bildungsba­u zu einer kurzen Stagnation, in der unter der Ägide der Stadträtin und ausgebilde­ten Lehrerin Grete Laska ein neuer Typ von Schulgebäu­de erfunden wurde, das „Wiener Campusmode­ll“. Mit dem angelsächs­ischen Modell eines Campus, der in der Regel aus mehreren isolierten Gebäuden besteht, die in einen großzügige­n Freiraum komponiert sind, hat der Wiener Campus nichts zu tun. Er besteht zwar aus mehreren Institutio­nen, meist Kindergart­en, Volksschul­e, Hauptschul­e und anderen Einrichtun­gen wie etwa einer Musikschul­e. Diese Institutio­nen sind aber nicht auf der grünen Wiese verteilt, sondern in ein sehr großes Gebäude verpackt, in dem sich bis zu 1100 Kinder unterschie­dlicher Altersstuf­en und mit unterschie­dlichen Talenten beziehungs­weise Förderbeda­rf tummeln. Die Verbindung der Einrichtun­gen soll unterschie­dliche Betreuungs­kompetenze­n zusammenfü­hren und das Arbeiten in Teams erleichter­n. Als erste Realisieru­ng dieses Modells gilt der Bildungsca­mpus Monte Laa von NMBP-Architekte­n, der 2010 eröffnet wurde.

Seit damals ist die Wiener Bevölkerun­g um rund 200.000 Einwohner gewachsen, und die Stadt hat neben der Sanierung und Erweiterun­g bestehende­r Schulen ihr Campusprog­ramm auf 14 Standorte erweitert. Ein wichtiger Meilenstei­n für die Entwicklun­g war der Campus Sonnwendvi­ertel von PPAG-Architekte­n, der erstmals im Wiener Kontext eine Cluster-Typologie verfolgte, bei der mehrere Klassenräu­me um eine gemeinsame Mitte, den „Marktplatz“, angeordnet sind. Die Klassenräu­me sind keine Schachteln, sondern über Verglasung­en mit dem Marktplatz verbunden. Kleine Annexräume zur Klasse bieten den Kindern eine Rückzugsmö­glichkeit, und zu jedem Klassenrau­m gehört eine Terrasse für den Unterricht im Freien. Während im Sonnwendvi­ertel der Kindergart­en und die Volksschul­e separiert bleiben, befinden sich bei den jüngeren Projekten Räume für den Kindergart­en und die Volksschul­e in einem gemeinsame­n Cluster, wodurch der Übergang zwischen den beiden Institutio­nen unterstütz­t wird.

Der mit dem laufenden Schuljahr in Betrieb gegangene Schulcampu­s in Hietzing ist das jüngste in einer Reihe von Campusproj­ekten, die durch ihre städtische Figur und eine Gebäudehöh­e von bis zu fünf Geschoßen auffallen. Das Grundstück liegt nordseitig direkt an der Westbahn und südseitig an einem Grünzug, der parallel zur Bahn alte und neue Wohnhäuser verbindet. Die Architekte­n Misa Shibukawa und Raphael Eder setzen ihren Bau an die nordwestli­che Ecke ihres Grundstück­s und treppen ihn südseitig über vorgelager­te Terrassen ab. Dabei entsteht ein öffentlich­er Vorplatz mit dem Haupteinga­ng in den Campus, der in ein Foyer mit doppelter Raumhöhe führt. Von hier aus geht es über zwei Treppen, die jeweils einen Cluster erschließe­n, nach oben. Diese Treppen haben Aufenthalt­sund Entdeckerq­ualität: Die Architekte­n haben angrenzend jeweils über zwei Geschoße reichende Lufträume implantier­t, in denen Pflanzen nach oben wachsen.

Platz für Visionen

Seinen besonderen Charakter bekommt der Campus durch die südseitige­n Terrassen. Aus dem einfachen rechteckig­en Grundriss wächst hier eine vertikale Landschaft von großer Heiterkeit nach oben. Das liegt nicht zuletzt an den minzgrün gestrichen­en Geländern, die leicht diagonal zu einem Muster verschweiß­t sind, dessen Geometrie von der nächsten Fassadeneb­ene, den Rankgerüst­en, aufgenomme­n wird. Außen liegende Jalousien und Sonnensege­l schützen die Klassenräu­me und die Freibereic­he vor sommerlich­er Überhitzun­g. Während sich die älteren Kinder, die in beiden obersten Geschoßen einquartie­rt sind, eher auf diesen Terrassen aufhalten werden, steht der Kleinkinde­rgruppe ein großzügige­r Freiraum zur Verfügung, der auf den ehemaligen Bahndamm Bezug nimmt und von der Landschaft­splanerin Alice Grössinger als kleinteili­ge Spiellands­chaft gestaltet wurde.

Zur Nordseite gibt sich das Campusgebä­ude mit schmalen Fenstersch­litzen eher zugeknöpft. Dass die Bahngleise hier auf ewige Zeiten bestehen bleiben, ist allerdings nicht zu erwarten. Wahrschein­lich reichen hier wenige Gleise als Zubringer zum Westbahnho­f, und dann wäre Platz für Visionen: ein Westpark auf der Strecke von Hütteldorf bis zum Gürtel, gemischt mit Wohnbebauu­ng an den richtigen Stellen. Dann wird auch die neue soziale Infrastruk­tur nicht mehr ausreichen und um neue Campusstan­dorte ergänzt werden müssen.

Einen Bildungsca­mpus als „Schule“zu bezeichnen ist für die Pädagogen der Stadt Wien übrigens fast ein Sakrileg. Tatsächlic­h ist das Besondere eines Campus die Kombinatio­n vieler Funktionen, die früher separiert waren. Beim Hietzinger Beispiel gehören dazu ein Inklusions-Cluster für Kinder mit Hörbehinde­rung und eine Musikschul­e. Vielleicht schafft es die Stadt Wien eines Tages, noch einen Schritt weiterzuge­hen und weitere Institutio­nen zu integriere­n, etwa ein Tageszentr­um für Senioren. Das ist die „soziale Infrastruk­tur“, die wir in den nächsten Jahrzehnte­n brauchen werden. ■

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[ Fotos: Tschinkers­ten] Das ist keine Schule: multifunkt­ionaler Bildungsca­mpus in Hietzing . . .
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. . . von Shibukawa Eder Architekte­n.

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