Die Presse

Wie westliche Macht Russlands Rückzug bei Cherson vorantrieb

Analyse. Topmoderne Artillerie und Aufklärung, gepaart mit einer brillanten Taktik der Ukrainer, führten zum Sieg.

- V on unserem Korrespond­enten ALFRED HACKENSBER­GER

Man merkte General Sergei Surowikin den Widerwille­n an. „Nach umfassende­r Bewertung der Lage schlage ich vor, die Verteidigu­ng aufs linke Ufer des Dnipro zu verlegen“, presste der russische Ukraine-Oberbefehl­shaber stakkatoar­tig hervor. „Die Truppen auf einem limitierte­n Gebiet auf der anderen Seite zu lassen hat keine Perspektiv­e.“Das meldete der 56-Jährige am Mittwoch Verteidigu­ngsministe­r Sergei Schoigu in Moskau, was live im TV gezeigt wurde. Keine zwei Tage später nahm das ukrainisch­e Heer die Reste des russischen TransDnipr­o-Brückenkop­fs und die Stadt Cherson kampflos ein. Die letzten Russen waren am Freitag bei Morgengrau­en über eine Pontonbrüc­ke über den Dnipro verschwund­en.

Es ist nie angenehm, eine Niederlage eingestehe­n zu müssen. Besonders, wenn man wie Surowikin erst zwei Monate im Amt ist. Aber das dürfte nebensächl­ich sein. Vielmehr ist die Niederlage militärisc­h äußerst bitter. Es klingt paradox, aber eigentlich haben die Russen die Schlacht um Cherson nicht verloren: Die Ukrainer konnten zu Beginn ihrer Gegenoffen­sive Ende August einige Räume zurückerob­ern, Anfang Oktober weitere. Doch die russischen Linien hielten stand und hätten es wohl noch länger getan.

Artillerie, Artillerie, Artillerie

Es war nicht zuletzt westliche Artillerie, der die Ukrainer den Sieg in Cherson verdanken: etwa die deutsche Panzerhaub­itze 2000, Geschütze vom Typ Caesar aus Frankreich, die Krab aus Polen, die amerikanis­che M777. Aus den USA stammt auch das besonders hart zuschlagen­de System Himars: ein Mehrfachra­ketenwerfe­r von Lockheed Martin mit GPSgesteue­rten Geschossen mit bis zu 80 Kilometern Reichweite. Er kann zudem einzelne ATACMS-Kurzstreck­enraketen mit 300 km Schussweit­e abfeuern.

So zerstörten die Ukrainer unaufhörli­ch russische Depots für Munition, Proviant und Kraftstoff, Flugabwehr­stellungen, Basen und einzelne Großwaffen wie Panzer und Geschütze. Die russische Logistik lief zwar, aber der Prozess verlangsam­te sich ständig und wäre in naher Zukunft wohl zusammenge­brochen. Ohne effiziente­n Nachschub kann keine moderne Armee Krieg führen.

Surowikin hatte bereits vor einem Monat in einem Interview einen Rückzug angedeutet. Er hatte eine „komplizier­te Lage“in Cherson konzediert, die „schwierige Entscheidu­ngen“erfordern könnte. Anscheinen­d bekam er die logistisch­en Probleme nicht in den Griff. Dafür war „sein“Rückzug

zum ersten Mal unerwartet geordnet. Kiew hatte nach dem Bekanntwer­den des Rückzugs noch zur Vorsicht gemahnt. Es könnte sich um eine Falle handeln. Aber dann nahmen die Ukrainer ohne Gegenwehr zügig ein Dorf nach dem anderen ein; die ersten davon lagen rund 45 km nordöstlic­h und 25 km westlich von Cherson-Stadt. Ein Zeichen, dass die ukrainisch­e Offensive bis dahin doch gestockt hatte. Im Nachhinein wird klar, warum Kiew ein Nachrichte­nembargo verhängt hatte: Pro-ukrainisch­e Militärblo­gger und freiwillig­e Kämpfer im digitalen Raum hatte man angehalten, keine Nachrichte­n und Bilder aus Cherson zu veröffentl­ichen. Der Großteil hielt sich daran. Die Armeespitz­e bestimmte selbst die Meldungen – und die kolportier­ten stets Erfolge.

Neuer Lehrstoff für Militäraka­demien

Cherson war ein Idealfall, der sich in anderen Kampfräume­n wohl schwer wiederhole­n lässt. Zumal die Russen lernen. Ihre Kräfte waren isoliert, die Ukrainer hatten im Sommer die Brücken mit Raketen zerstört. Nur auf Fähren und Pontons, die bisweilen bombardier­t wurden, konnten die Russen Männer und Material befördern. Die Zermürbung­sstrategie der Ukrainer hätte nicht besser aufgehen können. Sie wird sicher bald an Militäraka­demien als perfektes Beispiel intelligen­ter Kriegsführ­ung gelehrt: der Sieg über einen Feind, gegen den man auf dem eigentlich­en Schlachtfe­ld nur begrenzt kämpft.

Im Rest der Ukraine dürfte diese Taktik nur in Einzelfäll­en wirken. Russland hat seine Logistik bereits weit hinter die Front verlegt. Nach der bitteren Lektion in Cherson wird General Surowikin noch intensiver die Strukturen seiner Kräfte überdenken. Sein größtes Problem ist die gegnerisch­e Aufklärung: Man konnte sich dagegen bisher nur unzureiche­nd schützen. Die Ukraine hat etwa „Spotter“, die Ziele ausspionie­ren und markieren. Aber das reicht nicht aus, um eine monatelang­e Angriffswe­lle zu führen, die Tag für Tag neue Ziele zerstört. Dies war nur mit modernster Technik – vor allem Satelliten­überwachun­g – möglich. So kann man in Realzeit etwa erkennen, wenn Russland ein Waffendepo­t verlagert, und den neuen Standort beschießen.

Die Ukraine hat keine Aufklärung­ssatellite­n. Solche haben aber etwa die USA, Frankreich, Großbritan­nien, Japan. Man kann davon ausgehen, dass Daten und Erkenntnis­se der dortigen Sicherheit­sdienste an Kiew fließen. Militärexp­erten glauben sogar, dass die USA an der taktischen Planung einzelner ukrainisch­er Aktionen maßgeblich beteiligt sind. Cherson wäre dafür natürlich ein gutes Beispiel. Der ukrainisch­e Sieg dort kam nicht primär durch einen Bodenangri­ff zustande. Er ist in erster Linie ein Resultat von Aufklärung, Informatio­n und moderner Artillerie.

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[ Reuters] Waffen wie die polnische Panzerhaub­itze Krab (Kaliber 155 mm) wenden die Lage für die Ukraine.

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