Gentleman im nationalen Auftrag seiner Majestät
WM-Analyse. England ist in Katar gefordert, wie sehr wirken Halbfinale 2018 und EM-Finale 2021 als Ballast? Was gelingt Harry Kane?
Doha. Alles nur kein Elferschießen, das war man als Engländer stets geneigt sich zu erbeten, wenn ein Großereignis vor der Türe stand. Legendär sind unfassbare Fehlversuche diverser Größen und Mannschaften zwar, bloß im „Mutterland des Fußballs“hat man damit so recht keine Freude. Lang galt der WM-Sieg 1966 als einziger Strohhalm, dann kamen mit dem WM-Halbfinale 2018 und dem (trotz Elfer-Flop verlorenem) EMFinale 2021 neue Strömungen auf. Die „Insel“schwor sich auf Manager Gareth Southgate ein.
Doch auch der Retter ist längst nach schwachen Spielen mit überaus ernüchternder Offensive nicht mehr unumstritten. Ob Sir, Gentleman, Stilikone in Sachen Maßanzug oder der klassische royale Auftrag:
Es scheint, als könnte auch er die „Lions“nicht vom Leidensweg befreien. Der Abstieg aus der Gruppe A der „Nations League“(u. a. 0:4 gegen Ungarn) sorgte für landesweiten Ärger.
In Katar – das Eröffnungsspiel steigt am 20. November – treffen die Engländer in Gruppe B auf Iran, USA und Wales. Als ihr Vorteil gilt zwar der Winter-Termin, die harte Premier-League-Saison ist noch nicht vorüber, bloß die Abwehr wirkt ungemein hölzern. Vor dem neuerdings fehleranfälligen Torhüter Jordan Pickford sollen White (Arsenal), Walker (ManCity), Alexander-Arnold (Liverpool), Coady (Everton), Dier (Tottenham), Maguire, Shaw (ManUnited) oder Trippier (Newcastle) für Ordnung sorgen. Das wird mit diesen Spielern, von denen einige selbst bei ihren Klubs nicht frei von Kritik sind, kaum gelingen.
Im Mittelfeld blickt man auf Jude Bellingham, der DortmundSpieler ist der einzige Legionär im Lions-Kader. Mount (Chelsea), Henderson (Liverpool) oder Rice
(West Ham) verheißen zumindest Tempo und Ideen. Im Sturm führt an Tottenhams Top-Torjäger Harry Kane kein Weg vorbei. Alternativen sind Saka (von Tabellenführer Arsenal), Sterling oder Foden (je Man-City). Dennoch, die Skepsis überwiegt und auch das Urteil des populären Ex-Spielers und TV-Experten Gary Lineker fiel geradezu päpstlich aus: „Ist England gezwungen, Stärken zu zeigen (Angreifen), dann wirkt es eine gute Mannschaft. Wenn sie versuchen, ihre Schwächen in der Abwehr zu überdecken, wirken sie wie eine schlechte Mannschaft.“
Mit eigener Kapitänsschleife
Southgate, 52, führte England in sechs Jahren in zwei Halbfinali, das wird ihm aller Voraussicht nach in Katar nicht gelingen. Auch ist auffällig, dass im WM-Vorfeld bei den Engländern nicht über Taktik oder Systeme, sondern vorwiegend darüber debattiert worden ist, ob man auch in Katar als Zeichen gegen Rassismus vor dem Anpfiff knien wird. Das Event ist wegen der Menschenrechtslage und den Arbeitsbedingungen für Migranten zudem schwer in der Kritik. England oder auch Deutschland werden deshalb mit einer speziellen Kapitänsbinde auflaufen. (fin)