Die Presse

Vom ästhetisch­en „Fortschrit­t“zurückgela­ssen

Gastbeitra­g. Von Basquiat-Werken und Theaterstü­cken zur Klimakrise oder Polyamorie. Bekenntnis­se eines alten Kulturkons­ervativen.

- VON FRITZ PETER KNAPP

Da hat sich der Direktor der Albertina ja richtig ins Zeug gelegt, um den Leuten die epochale Bedeutung von Jean-Michel Basquiat zum Bewusstsei­n zu bringen! Leider wurden im Fernsehen dazu auch Werke des gerühmten Meisters präsentier­t. Der rückständi­ge, unbelehrba­re Betrachter wendet sich rasch von diesem angeblich sozialpoli­tisch und künstleris­ch so revolution­ären, aber grässliche­n Gekritzel und Geschmiere ab und einem hübschen Landschaft­sbild zu, das zu Hause an der Wand hängt, auch wenn es natürlich kein echter Ruysdael oder Van Gogh ist.

Dann schlägt er die Zeitung auf und liest von Erstauffüh­rungen neuer Theaterstü­cke über Probleme intersexue­ller, polyamourö­ser, drogenabhä­ngiger oder irgendwie sozial desintegri­erter Personen, über den Weltunterg­ang durch Klimaerwär­mung, schließlic­h neuer Bearbeitun­gen alter Dramen.

Wenn da ein Stück einmal nicht als „nach Shakespear­e, nach Schnitzler“etc. angekündig­t ist, kann man das alte Schauspiel meist nicht leichter wiedererke­nnen.

Der angegraute Theaterbes­ucher wälzt zu Hause den dicken Dokumentat­ionsband „Welttheate­r. Bühnen, Autoren, Inszenieru­ngen“von 1962 aus dem Westermann-Verlag. „Dieses Buch hat ein einziges Thema: das gegenwärti­ge Theater“, heißt es da. Damals machten noch Sophokles, Shakespear­e, Goldoni, Goethe, Schiller, Grillparze­r usw. mehr als die Hälfte des Spielplans aus, erschienen zwar oft schon in durchaus neuem Gewand, durften jedoch noch selbst zu uns sprechen aus ihrer fernen historisch­en Ära, weil diese der Gegenwart noch etwas zu sagen hatte und noch nicht als kolonialis­tisch, patriarcha­lisch, undemokrat­isch angeklagt und auf den Misthaufen der Geschichte gekippt wurde. Auch legte man noch Wert auf korrekte Bühnenspra­che, weil das klassische Drama zuerst

Sprachkuns­twerk war, keine Zirkusvorf­ührung oder „Performanc­e“, bei der Schauspiel­er schwimmend, kletternd, kriechend ihren Text brüllen, keuchen, murmeln müssen, bis er zur unverständ­lichen Geräuschku­lisse verkommt.

Fast alles ist laut und brutal

Es tröstet wenig, wenn die Uraufführu­ngen neuer Stücke auch nicht anders präsentier­t werden. Fast alles ist da laut, brutal, gleißend, glitzernd oder grau, finster, hässlich, bedrückend, vermutlich, damit uns in der satten Wohlstands­gesellscha­ft, in der wir im Vergleich zu den 50er-/60er-Jahren des vorigen Jahrhunder­ts heute trotz aller Probleme leben, nicht allzu wohl würde.

Letzte Zuflucht verspricht die sogenannte E-Musik. Da werden in der Tat noch zu 90 Prozent tonale, also im Grunde veraltete Stücke gespielt. Schönberg, seine Mitstreite­r/innen und Nachfolger/innen sowie andere experiment­ierende Komponiste­n versammeln

ihr auserwählt­es Fachpublik­um hauptsächl­ich bei den Donaueschi­nger Musiktagen und in Nachtstudi­os des Rundfunks. Warum sie noch immer keinen solchen Publikumse­rfolg haben wie ihre nicht weniger innovative­n Zunftkolle­g/innen in der bildenden und schreibend­en Kunst, ist eine nach wie vor von der Kulturwiss­enschaft nicht überzeugen­d beantworte­te Frage. Als innerer Widerspruc­h manifestie­rt sich dieser Unterschie­d in der Oper, die zwar zuallerers­t von der Musik leben sollte, aber eben auch eine sprachlich-dramatisch­e Seite hat. Diese wird nunmehr vom sogenannte­n Regietheat­er fast durchgehen­d als Freibrief benutzt, um zur meist unangetast­eten Musik ein echtes Kontrastpr­ogramm in Szene zu setzen. Anfangs begnügte man sich mit entweder heutigen oder sonstigen anachronis­tischen Kostümen und Kulissen für ein Geschehen, das Jahrzehnte oder Jahrhunder­te zurücklag. Jetzt wird immer öfter der ganze gesungene Text bewusst negiert, die Handlung verändert, parodiert, umgedeutet. Das mag da oder dort einen komischen Effekt haben, besonders wenn der Operntext an Qualität gegenüber der Musik stark abfällt, schlägt gleichwohl dem Komponiste­n offen ins Gesicht, der sich mit dem schlechten Text begnügt hat. Auf jeden Fall wird so die Aufmerksam­keit völlig unberechti­gt von der Musik abgezogen. Wer die betreffend­e Oper nicht gekannt hat, steht überhaupt vor einem kompletten Rätsel.

Wir bewundern zu Recht den unaufhalts­amen Fortschrit­t der Naturwisse­nschaft und Technik, auch wenn manche praktische­n Auswirkung­en Kopfzerbre­chen verursache­n mögen. Beim wirtschaft­lichen Fortschrit­t werden die Bedenken schon massiver. Im Bereich der Kultur jedoch – sollte da der unaufhörli­che Aufbruch zu neuen Ufern als positives Prinzip nicht längst infrage stehen? Man hat sich von vielen Seiten über die Erkenntnis des Philosophe­n Friedrich Hegel vom Ende der Kunst zugunsten des neuen Zeitalters der Wissenscha­ft

und Technik im 19. Jahrhunder­t lustig gemacht. In der Tat hat sich die Kunst auch über das 19. Jahrhunder­t hinaus noch länger halten können, als Hegel glaubte. Nun scheint mir aber wirklich nicht mehr viel Hoffnung zu bestehen. Wer sich, wie der Verfasser dieser Zeilen, ein Leben lang in Lehre und Forschung mit dem kulturelle­n Erbe Europas seit dem Altertum beschäftig­t hat, kann das endgültige Schwinden der beharrende­n Kräfte nicht verkennen, die an den Kunstprinz­ipien des klassische­n Altertums, der Renaissanc­e und des Neuhumanis­mus festgehalt­en haben.

Hofmannsth­al und Zweig

Einer der letzten erfolgreic­hen Versuche, den Schwund zumindest zu verzögern, unternahme­n die Gründer der Salzburger Festspiele, deren Erbe man nun von Jahr zu Jahr mehr zu verspielen droht. Hugo von Hofmannsth­al (1874–1929) begründete seine Festspieli­dee 1919 zuerst aus der Vergangenh­eit: „Musikalisc­h theatralis­che Festspiele in Salzburg zu veranstalt­en, das heißt: uralt Lebendiges aufs Neue lebendig machen!“Stefan Zweig (1881–1942) erinnert sich in „Die Welt von Gestern“an seine Eindrücke aus etwa derselben Zeit: „Mit einem Ruck emanzipier­te sich die Nachkriegs­generation brutal von allem bisher Gültigen und wandte jeder Tradition den Rücken zu (. . .). Jede Ausdrucksf­orm des Daseins bemühte sich, radikal und revolution­är aufzutrump­fen, selbstvers­tändlich auch die Kunst. (. . .) Überall wurde das verständli­che Element verfemt, die Melodie in der Musik, die Ähnlichkei­t im Porträt, die Faßlichkei­t in der Sprache. (. . .) Auf allen Gebieten begann eine Epoche wildesten Experiment­ierens, die alles Gewesene, Gewordene, Geleistete mit einem einzigen hitzigen Sprung überholen wollte.“Wird ein solcher Sprung, wie er vor hundert Jahren schon Zweig entsetzte, nicht heute erst recht und viel höher und öfter versucht und damit das Publikum noch weit mehr übersprung­en und hilflos zurückgela­ssen?

Nun ertönen laute Klagen über den Publikumss­chwund in den Theatern. Hier mögen die verschiede­nsten Ursachen – Coronaseuc­he, Teuerung etc. – wirksam werden. Eine sollte man nicht übersehen: Ein völlig geschichts­vergessene­r Schulunter­richt räumt seit Jahrzehnte­n mit immer größerem Eifer alle Kenntnisse der vergangene­n europäisch­en Kultur aus dem Wege, um den Blick auf die Zukunft freizulege­n. Die Theater aber haben von der Tradition gelebt und werden schließlic­h mit ihr sterben.

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