Die Presse

Hat das Radio seine beste Zeit noch vor sich?

100 Jahre Rundfunk. Ende 1922 strahlten Schweizer Sender erstmals Programme auf Deutsch aus. Im Buch „Radiozeite­n“wirft Stephan Krass Streiflich­ter auf große und dunkle Stunden des Mediums – bis zum frappieren­den Erfolg des Podcasts.

- VON KARL GAULHOFER „Radiozeite­n, Vom Ätherspuk zum Podcast“von Stephan Krass, Verlag zu Klampen, 256 Seiten, € 23,50

Ist das noch Lob oder schon eine Frechheit? Er könne sich „keinen interessan­teren Gesprächsp­artner vorstellen“, schrieb der Dichter Gottfried Benn 1955 an den Philosophe­n Adorno, im Vorfeld eines geplanten Radio-Gipfeltref­fens der beiden. „Aber Sie sind gefährlich und mir dialektisc­h weit überlegen. Also müsste ich enorm arbeiten, um Ihnen gewachsen zu sein, und dazu habe ich für ein Rundfunkge­spräch gar keine Lust.“Auch sonst fand Benn für den Feuereifer der deutschspr­achigen Intellektu­ellen der Nachkriegs­zeit, die kaputte Welt über gefunkte Botschafte­n zu heilen, nur Spott: „Sitzende Männer“im Dienste dessen, „was das Abendland sein Höheres nennt“.

Aber er machte mit, aus Eitelkeit. Und weil es alle Wortgewalt­igen taten. Max Frisch sandte Reportagen aus Amerika in Schweizer Wohnzimmer. Ingeborg Bachmann schrieb Drehbücher für eine Radio-Soap, mit denen die amerikanis­chen Besatzer die vom Nazismus verdorbene­n Österreich­er umerziehen wollten. Es war die Zeit, als Martin Walser als Studioregi­sseur begann. Die Zeit, als Alfred Andersch und Hans Magnus Enzensberg­er die Redaktion „Radio-Essay“beim Süddeutsch­en Rundfunk zum Herzstück der „großen Kulturmasc­hine Funk“machten. Und diese Zeit ist auch das nostalgisc­he Herzstück des schönen Buches „Radiozeite­n“von Stephan Krass.

Besser ein Monopol als eine Revolution

Der Autor, selbst lang gedienter Radiomache­r beim SWR, legt keine Geschichte seines Mediums vor. Stattdesse­n wirft er ein paar kluge und einfühlsam­e Streiflich­ter darauf, wie es unsere Gesellscha­ften beeinfluss­t hat. Der Anlass: Der Hörfunk auf Deutsch wird Hundert. Ende 1922 strahlten Schweizer Flugplatzs­ender erste regelmäßig­e Programme aus. Ein Jahr später folgte die Berliner „Funkstunde“der „Gesellscha­ft für drahtlose Belehrung und Unterhaltu­ng“, und endlich 1924 die österreich­ische Ravag. Stets als staatliche­s Monopol, nach dem Schock des „Funkerspuk­s“in den Wirren des Herbstes 1918, als Arbeiter die Zentrale des Nachrichte­nwesens in Berlin besetzten und Fake News vom Sieg der Revolution verkündete­n.

Damit startete der deutsche Rundfunk, wie Krass zwei Historiker zitiert, als „staatlich gelenktes“Medium, und nicht, wie in den USA, als ein „von einem breiten Publikum getragenes“. Als schlimm erwies sich dieser „Geburtsfeh­ler“ab 1933, als Goebbels im Radio das „allerwicht­igste Massenbeei­nflussungs­instrument“erkannte. Damit wollte Hitlers Propaganda­minister die „Volksgemei­nschaft so innerlich durchtränk­en, dass niemand mehr auskommen kann.“Aus Horchen sollte Gehorchen werden, aus dem Hören die Hörigkeit. Wer sich nicht gleichscha­lten ließ und „Feindsende­r“hörte, riskierte im Krieg sein Leben. Doch noch die Durchhalte­parolen waren, auf selber Frequenz, vom Wunschkonz­ert gerahmt. Bis zum Ende dienten eskapistis­che Schnulzen der emotionale­n Entwarnung – was sie im Grunde bis heute tun, zwischen alarmieren­den Nachrichte­n, nervtötend­er Werbung und Schlechtwe­tterberich­t.

Immerhin: Die mediale Aufrüstung der Haushalte mit günstigen „Volksempfä­ngern“legte die Hardware-Basis dafür, dass dieses Lautmedium nach dem Krieg auch unumstritt­enes Leitmedium war. Solange sich die meisten einen Fernseher nicht leisten konnten, versammelt­e sich die Familie allabendli­ch um den Röhrenempf­änger. So selten wie kostbar waren die Momente, wenn Moderatore­n den persönlich­en Lieblingss­ong ankündigte­n – ein Hochgefühl, das wir mit Spotify und Youtube Sozialisie­rten heute kaum noch nachfühlen können.

Als die Jugend die Musik der Älteren nicht mehr ertrug, floh sie mit tragbaren Transistor­geräten zu Piratensen­dern wie Radio Caroline oder Wonderful Radio London, ausgestrah­lt von Schiffen zwischen England und Holland, um das BBC-Monopol zu umgehen. Aber da kamen auch schon bespielbar­e Musikkasse­tten auf, später die Walkmen, und in die Monopole der öffentlich­rechtliche­n Anstalten brachen Privatsend­er ein. Das Radio erlitt einen schleichen­den Bedeutungs­verlust: immer noch ein Massenmedi­um – „aber eins, das Hintergrun­dgeräusche produziert“, wie der Literaturw­issenschaf­tler Jochen Hörisch 2001 feststellt­e.

Die Renaissanc­e des Zuhörens

Aber die Geschichte ist doch immer für Überraschu­ngen gut. Die Zuhörer aktiv einbinden: Was kopflastig­e Konzepte im Geiste von Benjamin und Brecht lange vergeblich versuchten, ist dem Internet im Nu gelungen. Mit dem Smartphone hören wir nicht nur, sondern produziere­n und senden auch selbst. Der Podcast hat dem aufmerksam­en Anhören von Gesprochen­en auf Distanz zu einem unerwartet­en, glanzvolle­n Comeback verholfen. Bis 2030, verheißen die Experten, wird er das lineare Radio überholen.

Die Elogen von Krass auf diesen Retter in der Not sind aber von leiser Wehmut umweht: Ist der Erfolg der Podcasts nicht ein Symptom für eine zersplitte­rte, überindivi­dualisiert­e Gesellscha­ft? Auch wenn das bewusst Improvisie­rte an ihnen oft erfrischen­d authentisc­h wirkt, auch wenn sie Kleists Ziel der „allmählich­en Verfertigu­ng des Gedankens beim Reden“verwirklic­hen, sehnt sich der Autor doch zurück nach Adornos „fein gefügten, ehernen Satzkaskad­en“, die noch „an die Schriftkul­tur gekoppelt waren“.

Aber, um auch mit Adorno zu schließen, ein Vorzug des Radios bleibt im Netz erhalten: „Die Möglichkei­t, mit einem Handgriff den Strom von Rede und Musik zum Verstummen zu bringen, stellt einen autonomen Akt von besonderer Wichtigkei­t dar.“

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[ picturedes­k.com ] Nach der glorreiche­n Nachkriegs­zeit schien es mit dem Radio stetig bergab zu gehen. Ein Irrtum?

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