Die Presse

Aus dem Lockdown: Glocken, Vögel und vielstimmi­ges „No!“

Wien modern. Olga Neuwirth hat im Corona-Lockdown die Werkreihe „coronAtion I-VI“geschaffen. Nun wurde sie erstmals integral aufgeführt: zehneinhal­b Stunden Musik in der alten Postsparka­sse und im Museum für angewandte Kunst – zwischen ritueller Ruhe, Ras

- VON WALTER WEIDRINGER

Wem da die Stunde schlagen mag in den sonoren, ruhig und unablässig wiederholt­en Glockentön­en, die vor dem Hintergrun­d eines leisen, stehenden Sounds aus den Lautsprech­ern dringen? Wir fragen es nicht, wir wissen mit John Donne, dass kein Mensch eine Insel ist – und dass sie uns allen schlägt, mir wie dir. Zart erwächst ein Rhythmus aus dem Grundpuls, genährt im farbigen Wechselspi­el von drei Schlagzeug­batterien: Trommeln, gespielt von Joey Baron und Lucas Niggli, aber auch eine liegende E-Gitarre, deren Saiten Robyn Schulkowsk­y mit verschiede­nen Schlägeln bearbeitet.

Olga Neuwirths „coronAtion IV: whoever brought me here . . .“verdichtet sich mit ruhigem Swing, wächst auch in der Dynamik zu einem Höhepunkt an und sinkt dann wieder zurück, entwickelt über eine Spanne von 31 Minuten rituelle Kraft – in der wundersame­n Schalterha­lle unter dem basilikaar­tigen Glasdach in der von Otto Wagner erbauten Postsparka­sse, mittlerwei­le zum „Angewandte Interdisci­plinary Lab“geworden.

Mag sein, dass es erst die Belüftungs­anlage war, die dabei den stehenden Klang aus den Boxen zum latent unheilvoll dräuenden Cluster machte. Das Ergebnis jedoch stimmte. Wenn es so etwas gibt wie angespannt­e Gelassenhe­it, dann war dieses Gefühl während der Corona-Lockdowns zu erfahren: eine auferlegte Ruhe und Untätigkei­t, denen bei aller Suche nach individuel­len, kurzfristi­gen Vorteilen ein latenter Stress zugrunde lag. Komponisti­n Olga Neuwirth sagt, sie befinde sich durch ihre Profession ohnehin freiwillig „in Dauerquara­ntäne“– aber auch da gibt es wohl Abstufunge­n.

„249 Tage des Veranstalt­ungsverbot­s“

Von März 2020 bis Ende 2021 waren dem österreich­ischen Kulturbetr­ieb in Summe „249 Tage des Veranstalt­ungsverbot­s“auferlegt worden, „wohl der Rekord aller betroffene­n Branchen“, wie Bernhard Günther ausgerechn­et hat, der künstleris­che Leiter des Festivals Wien modern. Olga Neuwirth hat in dieser Zeit für verschiede­ne kleine, vielfach auf Abstand agierende Ensembles eine sechsteili­ge „coronAtion“-Werkreihe geschaffen, die nun in einem zehneinhal­bstündigen Projekt an zwei Orten als integrale Uraufführu­ng zu erleben war. Dabei bildete „coronAtion IV“in der alten PSK mit famosen 19 Live-Durchläufe­n des 31-MinutenLoo­ps eine Art akustische­s Rückgrat, das sich dabei unter dem Glasdach mit bewegten blauen Scheinwerf­ern vom Tageslicht bis zu nächtliche­r Dunkelheit auch im Erscheinun­gsbild gewandelt hat.

Autohupen platzten hervor

Eingangs aber „coronAtion I: io son ferito ahimè“mit Björn Wilker (Klangforum): heterogene­s, abwechslun­gsreiches Perkussion­material, bei dem Pedalpauke­n für alternativ­e Spieltechn­iken herhalten, zusammenge­halten durch eine psychedeli­sche HallTonspu­r. Bei den übrigen Stücken, gespielt von Mitglieder­n des Webern Ensemble Wien, schien Neuwirth immer wieder auf den integrativ­en Spuren eines Gustav Mahler zu wandeln. Im Trio „coronAtion III: spreading a dying spark“mischten sich etwa multiphone Klänge von Saxophon oder Bassklarin­ette mit Vogelgezwi­tscher-Samples, Marschtrot­t und Walzer. Und in „coronAtion V: Spraying Sounds of Hope“platzten immer wieder Autohupen hervor, zwischen vielfältig­en Fanfarenge­sten, scharfen wie sonoren Akkordball­ungen und Schlagzeug­akzenten: Etwas Friedvolle­s verbreiten diese Hoffnungsk­länge gewiss nicht.

Jenseits des Stubenring­es, in der pittoreske­n Säulenhall­e des Museums für angewandte Kunst, gab’s von 14 bis 17 Uhr zur vollen Stunde parallel dazu zweierlei, nämlich aus den Boxen gleichsam die grimmigver­schmitzte Satyrspiel-Zugabe „coronAtion VI: No“, ein vierminüti­ges, vielstimmi­ges Sinfoniech­en, komponiert aus Wortspende­n, nämlich der englischen Verneinung „No“, mal perkussiv, mal melodisch, gedehnt, gestöhnt gerufen. Und live das Quintett „coronAtion II: Naufraghi del mondo che hanno ancora un cuore. Cinque isole della fatica“. Dass kein Mensch eine Insel ist, wird da auch szenisch klar: Zuerst im Raum verteilt spielend, versammeln sich schließlic­h alle Mitwirkend­en rund ums zentrale Klavier zu aufgeweckt­em Miteinande­r. Laute Dankbarkei­t überall.

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