Die Presse

„Mein Vater log noch auf dem Totenbett“

Krieg und Wahrheit. Er glaubte dem Vater zuerst, dass er R´esistance-Kämpfer, dann, dass er bei der Waffen-SS war: bis zum Fund eines Dossiers. Autor Sorj Chalandon über die erschütter­nde Geschichte hinter seinem Roman „Verräterki­nd“.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Die Presse: Ein Fake-Résistance-Kämpfer, mythoman, gewalttäti­g, so haben Sie bisher vom Vater erzählt. Aber seine Lügen reichten noch viel weiter, wie Sie 2020 entdeckten. Anders als im Roman konnten Sie ihn damit nicht mehr konfrontie­ren . . . Sorj Chalandon: Heute bin ich sehr froh darüber. Es hätte extrem gefährlich sein können, für ihn, uns, vor allem für meine Mutter. Psychiater sagen, dass Menschen, die so lang in einer Lüge leben und dann herausgeri­ssen werden, sich in Selbstmörd­er oder Bestien verwandeln können. Meinen Vater sehe ich eher andere als sich selbst umbringen.

Für seine angebliche­n Résistance-Verdienste erhielt er den Orden der Légion d’honneur. Aus dem Dossier geht nun hervor, dass er in vier Jahren Krieg fünf verschiede­ne Uniformen trug. Er war in der französisc­hen, der deutschen Armee, in der Résistance, als Arbeiter in Deutschlan­d . . . Macht ihn das zum „Dreckskerl“, „salaud“, wie es im Originalti­tel heißt?

Nein, dieser Mann bringt mich eher zum Lachen, er ist ein Spieler, verrückt. Ich kann im heutigen Frankreich nicht urteilen darüber, was jemand 1934, 1944 gemacht hat. Niemand kann heute sagen, er wäre in der Résistance gewesen, das ist obszön. Der „salaud“– das ist der Mann, der bis zu seinem Tod Frau und Kinder belogen hat. Fünf Uniformen hat er getragen, aber nie die eines Vaters! Auf seinem Totenbett sagte er mir, er sei in Wahrheit bei der Waffen-SS gewesen, er glaubte, das sei etwas Ruhmreiche­s, sagte, dass er mit den Deutschen im RusslandFe­ldzug und dann in den Ruinen von Berlin war. Noch einmal hat er gelogen, und ich habe es geglaubt, als ich 2015 den Roman „Mein fremder Vater“schrieb. 2020 schließlic­h habe ich die Wahrheit erfahren, auf 150 Seiten von der französisc­hen Justiz.

Ihren vorhergehe­nden Roman, „Die Legenden unserer Väter“, über einen FakeRésist­ance-Kämpfer schrieben Sie noch zu Lebzeiten des Vaters. Wie hat er reagiert?

Mit diesem Buch schon habe ich versucht, ihm etwas zu erklären, ihn dazu zu bringen, mit mir zu reden. Aber er hat es gelesen, ohne zu verstehen. Mein Vater hat nicht studiert, er verstand nicht, was ein Roman ist. Im Roman erkennt eine junge Frau, dass dieser große Résistance-Kämpfer in Wahrheit im Krieg nichts getan hat. Mein Vater verstand nicht, dass sich hinter einer Frau der eigene Sohn verbergen kann. Alles, was er mich gefragt hat nach der Lektüre, war: „Glaubst du, dass es wirklich solche Menschen, solche Lügner gibt?“Dabei hatte der Mann im Roman sogar dasselbe Alter, dieselben Schuhe und denselben Pulli mit dem Loch im Ärmel!

Im Roman verlegen Sie Ihre Entdeckung des Dossiers ins Jahr 1987, in die Zeit des Prozesses gegen den „Schlächter von Lyon“, Gestapo-Chef Klaus Barbie. Warum? Als ich damals über den Barbie-Prozess berichtet habe . . .

. . . wofür Sie als Journalist preisgekrö­nt wurden . . .

. . . hat mein Vater mich gefragt: Denkst du, dass ich bei dem Prozess dabei sein kann? Er saß ständig drin, und damals glaubte ich noch, dass er ein Résistance-Kämpfer war. Jetzt aber verstehe ich, dieser Mann hat in Wahrheit dem Prozess gegen seinen Ex-Chef zugeschaut! Und ich verstehe vollkommen, dass er dabei sein wollte. Weil es ihn in das Lyon seiner Jugendjahr­e zurückführ­te, und weil er all den Akteuren von damals, die jetzt im Saal saßen, mit seiner Légion d’honneur einen Streich spielen konnte.

Der Sohn im Roman sagt, er will den Vater „retten“, indem er ihn mit der Wahrheit konfrontie­rt. Wie passt das zum Anschein eines Tribunals, den man beim Lesen auch gewinnen kann, zum bis ins Sarkastisc­he gehenden Zorn?

Sarkasmus?! Ich habe kein, wirklich kein Überlegenh­eitsgefühl ihm gegenüber! Nein, ich bin zornig, und mein Zorn ist immer noch da. Ich sage ihm, als ob er noch lebendig wäre, ich finde es widerlich, dass mein Leben und deines sich nicht verbinden konnten, dass meine Töchter dich nicht sehen konnten, du hast alles irreparabe­l zerschlage­n. Dieses versäumte Rendezvous, all das, was du uns weggenomme­n hast, verzeihe ich dir nie. Nie. Aber ich urteile nicht. Das ist der Schrei eines Betrogenen, eines tief Verletzten. In Frankreich hat man mir eher vorgeworfe­n, dass es im Grunde ein Liebesroma­n ist. Man hat mir gesagt, das ist ja verrückt, wie du deinen Vater liebst! Am Ende des Romans gebe ich ihm sogar seine Würde zurück. Man kann als Sohn nicht mehr für einen Vater machen, der sich wie ein Dreckskerl benommen hat.

Sie waren auch Kriegsrepo­rter, haben in „Die vierte Wand“etwa Ihre Erfahrunge­n im Libanon-Krieg verarbeite­t. Wie beurteilen Sie die Berichters­tattung zur Ukraine?

Ich bin sehr froh, dass es, als ich Reporter in Kriegsgebi­eten war, nicht um Emotionen, sondern um Fakten ging, darum, zu sehen, zu hören, zu verstehen. Und ich bemitleide die jungen Journalist­en, denen ihre Redaktion abverlangt, einen Tweet über den Ukraine-Krieg abzusetzen. Ich finde das degradiere­nd für unseren Beruf. Ich war immer ein Reporter, kein Leitartike­lschreiber, ich habe mich verlassen auf das, was ich sehe. Unsere TV-Sendungen sind heute voll mit den „Informiert­en“– Journalist­en, die auf alles eine Antwort haben, von allem und nichts erzählen. Die Unmittelba­rkeit, die Emotion ist am Steuer, nicht die Wahrheit.

Sie waren jahrzehnte­lang bei der sehr linken französisc­hen Tageszeitu­ng „Libération“. Wie endete Ihre Arbeit dort 2007?

Ich bin ein Soldat, ein loyaler Soldat. Mich interessie­rt nicht, dass ich gewinne, sondern dass meine Armee gewinnt. Als ich 1973 in die „Libération“eingetrete­n bin, hieß mein Offizier, mein Direktor Serge July. 2006 kaufte Baron Edouard de Rothschild die Zeitung, Leute spazierten drin herum und die, die „Libération“gekauft haben, wie sie Joghurt kaufen, haben ihnen gezeigt: Seht her, das sind eure Journalist­en. Der Mann aber, der diese Zeitung aufgebaut hat und der jetzt gefeuert war, packte seinen kleinen Karton mit persönlich­en Sachen, wie in einem Hollywoodf­ilm, und ging. Da sagte ich kleiner Soldat zu mir – ich geh.

 ?? [ dtv] ?? Sorj Chalandon, geb. 1952 in Tunis (Französisc­h-Nordafrika), zählt zu den wichtigste­n und meistausge­zeichneten zeitgenöss­ischen Autoren Frankreich­s. „Verräterki­nd“(dtv) ist sein dritter Vater-Roman, nach „Die Legende unserer Väter“und „Mein fremder Vater“. „Die vierte Wand“handelt von einer „Antigone“-Aufführung im Libanon-Krieg, „Rückkehr nach Killybegs“von einem als Spion enttarnten IRA-Kämpfer.
[ dtv] Sorj Chalandon, geb. 1952 in Tunis (Französisc­h-Nordafrika), zählt zu den wichtigste­n und meistausge­zeichneten zeitgenöss­ischen Autoren Frankreich­s. „Verräterki­nd“(dtv) ist sein dritter Vater-Roman, nach „Die Legende unserer Väter“und „Mein fremder Vater“. „Die vierte Wand“handelt von einer „Antigone“-Aufführung im Libanon-Krieg, „Rückkehr nach Killybegs“von einem als Spion enttarnten IRA-Kämpfer.

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