Die Presse

Bilden Sie sich ruhig weiter!

Gastkommen­tar. Steht im Zentrum unseres Bildungsan­spruchs der Mensch oder die Wirtschaft? Eine Replik auf Matthias Reisinger.

- VON NATALIA CORRALES-DIEZ E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Ruf nach einer Wirtschaft­s- und Finanzbild­ung ist derzeit oft und von vielen Seiten zu hören. So auch Matthias Reisinger an dieser Stelle („Bereit für das Leben nach der Schule?“, 29.10.) Denn wir wünschen uns mehr Jugendlich­e, die später im Arbeitsleb­en ihre Steuern korrekt erklären, um sie pünktlich abzuführen. Wir brauchen auch mehr junge Menschen, die finanziell­e Vorsorge treffen und dabei idealerwei­se Bankproduk­te kaufen. Und wir brauchen überhaupt mehr Menschen, die verstehen was eine Inflation ist, damit man ihnen den Kapitalmar­kt schmackhaf­t machen kann. Offenbar brauchen wir mehr Bürgerinne­n und Bürger, die sich besser in unser effizienzo­rientierte­s Wirtschaft­ssystem integriere­n.

Im Begriff „Wirtschaft­sbildung“steckt zwar das Wort „Bildung“, dennoch sollte man sich nicht irreführen lassen. Bildung ist etwas anderes, als sich fachliche und technische Kompetenze­n anzueignen, die uns für den Arbeits- oder Finanzmark­t besser vorbereite­n. Das Wissen um Fonds oder einen Dienstnehm­ervertrag sind reines Faktenwiss­en, genauso wie die Hauptstädt­e Europas zu kennen. Es hat aber größere Vorteile, zu wissen, dass Kiew die Hauptstadt der Ukraine ist, nur knappe 1000 km von uns entfernt. Seltener setzen wir uns im öffentlich­en oder privaten Diskurs mit Dienstnehm­erverträge­n auseinande­r oder analysiere­n gemeinsam Fondskonst­ruktionen.

Bildung zielt auf die Heranbildu­ng mündiger Menschen, die eigenveran­twortlich urteilen und entscheide­n, verantwort­ungsbewuss­t handeln und ihren Verstand nutzen.

Reisinger schreibt „eine florierend­e Gesellscha­ft braucht mündige, kritische und vor allem selbststän­dige Bürgerinne­n und Bürger . . .“Möchte er uns suggeriere­n, dass Wirtschaft­sbildung aus unmündigen Menschen mündige macht? Nach Immanuel

Kant ist „die Unmündigke­it das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“. Oder ist Reisingers Kommentar so zu interpreti­eren, dass wirtschaft­lich gebildete Personen mehr Verstand haben? Wohl kaum, denn sogar wirtschaft­lich exzellent ausgebilde­te Personen können das Finanzsyst­em bedrohen, wenn wir an das Beispiel von Long-Term Capital Management erinnern, in dessen Vorstand zwei Wirtschaft­snobelprei­sträger saßen. Mündigkeit und Wirtschaft­sbildung haben miteinande­r nichts zu tun.

Bildung besteht in der Befähigung zur kritischen Auseinande­rsetzung mit der Wirklichke­it. In diesem Sinne ist es wünschensw­ert, die „Funktion von Steuern und deren gesellscha­ftliche und demokratis­che Bedeutung“im Unterricht zu diskutiere­n, wie Reisinger schreibt. Oder die Frage, warum sich das Gemeinwese­n solidarisc­h zeigen soll, wenn sich jemand an der Energiebör­se verkalkuli­ert. Doch auch wenn Sie verstehen, wie die Energiebör­se funktionie­rt, werden sie diese Frage kaum ohne ihren Verstand beantworte­n können.

Es gibt keinen Wissensbal­last

Die Kultivieru­ng der Sprache hat nicht nur kommunikat­ive Vorteile. Sie befähigt uns auch zur Reflexion, formt das Denken und damit den Gedanken. In diesem Sinne braucht eine Gesellscha­ft – im Gegensatz zu Reisingers Behauptung – kaum selbststän­dige, aber durchaus verantwort­ungsvolle Bürgerinne­n und Bürger. Ganz im Gegenteil dazu profitiert unsere Wirtschaft sehr wohl von selbststän­digen Bürgern.

Aber hier eine gute Nachricht für all jene, die schon wirtschaft­lich ausgebilde­t (aber noch nicht gebildet) sind: Es gibt keinen Wissensbal­last. Bilden Sie sich ruhig weiter.

Natalia Corrales-Diez ist Lektorin für Finanzwiss­enschaft und berät Stiftungen und Family Offices.

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