Bilden Sie sich ruhig weiter!
Gastkommentar. Steht im Zentrum unseres Bildungsanspruchs der Mensch oder die Wirtschaft? Eine Replik auf Matthias Reisinger.
Der Ruf nach einer Wirtschafts- und Finanzbildung ist derzeit oft und von vielen Seiten zu hören. So auch Matthias Reisinger an dieser Stelle („Bereit für das Leben nach der Schule?“, 29.10.) Denn wir wünschen uns mehr Jugendliche, die später im Arbeitsleben ihre Steuern korrekt erklären, um sie pünktlich abzuführen. Wir brauchen auch mehr junge Menschen, die finanzielle Vorsorge treffen und dabei idealerweise Bankprodukte kaufen. Und wir brauchen überhaupt mehr Menschen, die verstehen was eine Inflation ist, damit man ihnen den Kapitalmarkt schmackhaft machen kann. Offenbar brauchen wir mehr Bürgerinnen und Bürger, die sich besser in unser effizienzorientiertes Wirtschaftssystem integrieren.
Im Begriff „Wirtschaftsbildung“steckt zwar das Wort „Bildung“, dennoch sollte man sich nicht irreführen lassen. Bildung ist etwas anderes, als sich fachliche und technische Kompetenzen anzueignen, die uns für den Arbeits- oder Finanzmarkt besser vorbereiten. Das Wissen um Fonds oder einen Dienstnehmervertrag sind reines Faktenwissen, genauso wie die Hauptstädte Europas zu kennen. Es hat aber größere Vorteile, zu wissen, dass Kiew die Hauptstadt der Ukraine ist, nur knappe 1000 km von uns entfernt. Seltener setzen wir uns im öffentlichen oder privaten Diskurs mit Dienstnehmerverträgen auseinander oder analysieren gemeinsam Fondskonstruktionen.
Bildung zielt auf die Heranbildung mündiger Menschen, die eigenverantwortlich urteilen und entscheiden, verantwortungsbewusst handeln und ihren Verstand nutzen.
Reisinger schreibt „eine florierende Gesellschaft braucht mündige, kritische und vor allem selbstständige Bürgerinnen und Bürger . . .“Möchte er uns suggerieren, dass Wirtschaftsbildung aus unmündigen Menschen mündige macht? Nach Immanuel
Kant ist „die Unmündigkeit das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“. Oder ist Reisingers Kommentar so zu interpretieren, dass wirtschaftlich gebildete Personen mehr Verstand haben? Wohl kaum, denn sogar wirtschaftlich exzellent ausgebildete Personen können das Finanzsystem bedrohen, wenn wir an das Beispiel von Long-Term Capital Management erinnern, in dessen Vorstand zwei Wirtschaftsnobelpreisträger saßen. Mündigkeit und Wirtschaftsbildung haben miteinander nichts zu tun.
Bildung besteht in der Befähigung zur kritischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. In diesem Sinne ist es wünschenswert, die „Funktion von Steuern und deren gesellschaftliche und demokratische Bedeutung“im Unterricht zu diskutieren, wie Reisinger schreibt. Oder die Frage, warum sich das Gemeinwesen solidarisch zeigen soll, wenn sich jemand an der Energiebörse verkalkuliert. Doch auch wenn Sie verstehen, wie die Energiebörse funktioniert, werden sie diese Frage kaum ohne ihren Verstand beantworten können.
Es gibt keinen Wissensballast
Die Kultivierung der Sprache hat nicht nur kommunikative Vorteile. Sie befähigt uns auch zur Reflexion, formt das Denken und damit den Gedanken. In diesem Sinne braucht eine Gesellschaft – im Gegensatz zu Reisingers Behauptung – kaum selbstständige, aber durchaus verantwortungsvolle Bürgerinnen und Bürger. Ganz im Gegenteil dazu profitiert unsere Wirtschaft sehr wohl von selbstständigen Bürgern.
Aber hier eine gute Nachricht für all jene, die schon wirtschaftlich ausgebildet (aber noch nicht gebildet) sind: Es gibt keinen Wissensballast. Bilden Sie sich ruhig weiter.
Natalia Corrales-Diez ist Lektorin für Finanzwissenschaft und berät Stiftungen und Family Offices.