Als die Welt den Atemanhielt
Polen. Warum eine Luftabwehrrakete der Ukrainer in Polen abstürzte. Wieso Moskau das Nachbarland stärker denn je bombardiert. Wie die Nato reagiert. Die wichtigsten Fakten.
VON WOLFGANG GREBER, JUTTA SOMMERBAUER UND JÜRGEN STREIHAMMER
Brüssel/Kiew/Warschau/Wien. Während die Polizisten noch im Dorf Przewodów ermittelten, gab der polnische Präsident, Andrzej Duda, am Mittwoch Entwarnung. Die Explosion vom Vortag, die ganz Europa alarmiert und Ängste vor einer militärischen Konfrontation zwischen Nato und Russland geschürt hatte, ist höchstwahrscheinlich durch eine ukrainische Luftabwehrrakete ausgelöst worden. Bei dem Unglück in dem grenznahen Dorf wurden zwei Menschen getötet.
Man habe „keine Hinweise darauf, dass das ein beabsichtigter Angriff war“, sagte auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg nach einer Dringlichkeitssitzung des Bündnisses. Stoltenberg machte Moskau für den Zwischenfall verantwortlich; doch auch er ging von einem ukrainischen Querschläger aus. Russland hatte am Dienstag die Ukraine mit rund 100 Raketen beschossen.
Die ukrainische Regierung bat um Zugang zur Unglücksstelle im Nachbarland, um sich selbst ein Bild zu machen. Tags zuvor hatte Präsident Wolodymyr Selenskij noch anders geklungen: Er hatte von einem
Angriff Moskaus auf Polen gesprochen und „Handlungsbedarf“angemeldet.
1 Was ist bekannt über die Rakete und warum ist sie russischer Bauart?
Den meisten Quellen zufolge handelte es sich um eine Luftabwehrrakete der ukrainischen Streitkräfte – konkret eine der sowjetisch/russischen Serie S-300, gebaut ab den 1970ern, der erste Nato-Code dafür lautete SA-10 Grumble. Diese radargesteuerten Raketen haben Reichweiten von, je nach Modell, etwa 50 bis 200 Kilometern.
2 Wie könnte es zu dem Einschlag im polnischukrainischen Grenzgebiet gekommen sein?
Przewodó w ist nur etwa neun Kilometer von der Grenze bzw. dem ukrainischen Bezirk Tscherwonohrad entfernt. Eine S-300-Einheit in dem Bezirk oder dessen Nähe startete eine Rakete gegen einen russischen Marschflugkörper; es heißt, die Rakete war sehr alt. Falls sie ihr Ziel verfehlte, würde sie aufgrund ihrer Flugbahn und Richtung weitergeflogen und eben in Polen abgestürzt sein. In der Regel zerstören sich solche Irrläufer zwar
in der Luft selbst, aber Trümmer fliegen unkontrollierbar weiter. Letzteres trifft auch zu, sollte sie getroffen haben, was aber ebenfalls noch unklar ist – ebenso wie das Ziel des russischen Flugkörpers. Es könnte die Stadt Tscherwonohrad gewesen sein (circa 23 Kilometer entfernt von Przewodów), das Heizkraftwerk Dobrotwir (43 km), der Raum Lemberg (70 km) oder eine neun Kilometer entfernte Bahnlinie, über die aus Polen wohl Nato-Waffenhilfe kommt.
3 Warum überzieht Russland die Ukraine mit Raketenangriffen auf die Infrastruktur?
Seit dem 10. Oktober deckt Moskau die Ukraine mit Raketenangriffen ein. Die Einschläge vom Dienstag waren laut Kiew die bisher heftigsten. Ziel der Raketen sind die Energieversorgung und andere lebensnotwendige Infrastruktur im ganzen Land. Mit den Angriffen im „Hinterland“will Moskau das öffentliche Leben und die Wirtschaft lahmlegen. Auch psychologisch wirken die Schläge: Niemand soll sich sicher fühlen. Offiziell argumentiert der Kreml, dass auf diese Weise Reparaturbetriebe, Rüstungsnachschub und Armeeversorgung ausgeschaltet werden sollen. Tatsächlich kappen die Schläge in der Masse die Strom-, Wärme- und Wasserversorgung ziviler Haushalte. Dank gezielter Abschaltungen und schneller Reparaturen konnte ein Zusammenbruch des Systems bisher verhindert werden.
4 Was besagt eigentlich der Artikel 5 und was könnte im Bündnisfall geschehen?
Der Raketeneinschlag in Polen, einem NatoMitglied, löste Debatten über Artikel 5 aus. Er ist das Herzstück der Nato und besagt, dass eine Attacke auf ein Mitglied als Angriff auf alle angesehen wird. Das Musketier-Prinzip. Artikel 5 verpflichtet zum Beistand, aber nicht zum Einsatz von militärischer Gewalt. Jedes Mitglied entscheidet selbst, wie es unterstützt. Der Artikel ist vorsichtig formuliert. Artikel 5 sollte die Amerikaner an Europa binden und verhindern, dass jemand auf die Idee kommt, Nato-Gebiet anzugreifen. Er wurde ein einziges Mal aktiviert – und zwar just von den USA nach dem 9/11-Terror.
5 Welche Konsequenzen wird der Westen aus dem Zwischenfall ziehen?
Polen überlegte nicht, Artikel 5, sondern Artikel 4 zu aktivieren. Er sieht „nur“Beratungen vor und wurde siebenmal aktiviert, etwa 2016 nach dem Putschversuch in der Türkei. Aber Warschau verzichtete. In der Ukraine wurden erneut Rufe nach einer Flugverbotszone laut. Aber daraus wird nichts, weil die Nato nicht direkt in den Krieg hineingezogen werden will. Westliche Waffenhelfer könnten aber noch mehr Luftabwehrsysteme liefern. Womöglich gewinnt in der Nato auch die Initiative „Sky Shield“an Fahrt (Polen nicht dabei). Berlin bot Warschau am Mittwoch an, mit seinen Eurofightern den polnischen Luftraum zu überwachen.