Für Putin war der G20-Gipfel ein diplomatisches Desaster
Russland ist international zunehmend isoliert. Auch China, sein wichtigster Verbündeter, hat offenbar mittlerweile die Nase voll vom Ukraine-Krieg.
In emotionaler Aufwallung öffentlich voreilige Schlüsse zu ziehen, bevor grundlegende Fakten geklärt sind, hat sich noch selten als schlau erwiesen. Gemeingefährlich werden überstürzte Spekulationen, wenn die Welt ohnehin bedenklich nahe am Abgrund steht: Wird die Nato in den Ukraine-Krieg gezogen, dann ist der Dritte Weltkrieg nicht mehr weit.
Der ukrainische Präsident, unbestritten ein Meister der Kommunikation, war Dienstagnacht allzu schnell mit einer empörten Reaktion zur Stelle, nachdem im Nato-Land Polen nahe der Grenze eine Rakete eingeschlagen war. Wolodymyr Selenskij ließ zunächst nicht den leisesten Zweifel aufkommen, dass die russischen Streitkräfte das Geschoss abgefeuert hätten. Auch der litauische Präsident twitterte bereits, dass jeder Zoll Nato-Territorium verteidigt werden müsse. Nur: Zu diesem Zeitpunkt war überhaupt noch nicht klar, welche Waffen sich in die polnische Grenzlandschaft gebohrt und zwei Menschen in den Tod gerissen hatten.
Nach wenigen Stunden bereits verfestigten sich die Indizien für einen anderen Unglückshergang: Sehr wahrscheinlich sei eine ukrainische Luftabwehrrakete auf polnischen Boden gestürzt, erläuterte Polens Präsident, Andrzej Duda. Für die russische Propaganda war das ein gefundenes Fressen. Die Russen hatten von Anfang an vehement Berichte dementiert, Raketen auf Polen geschossen zu haben.
Seine Verantwortung kann der Kreml trotzdem nicht abwälzen. Denn zum Einsatz gekommen war das ukrainische Abwehrsystem nur, weil Russland eines der größten Raketeninfernos seit der Invasion entfacht hatte. Ruchlos ins Visier nahmen Putins Streitkräfte einmal mehr die ukrainische Infrastruktur. Vorübergehend waren sieben Millionen Privathaushalte ohne Strom. Das ist ein eklatantes Kriegsverbrechen, für das Putin hoffentlich einmal zur Rechenschaft gezogen wird. Sein Kalkül: Er will der ukrainischen Zivilbevölkerung vor dem Winter Lebensgrundlagen entziehen und eine neue Flüchtlingswelle nach Europa auslösen, um die dortige Solidarität mit der Ukraine zu zersetzen.
Bemerkenswert ist der Zeitpunkt der gewaltigen Artillerie-Attacke. Die Raketensalven gingen auf die Ukraine nieder, während auf der indonesischen Insel Bali noch die Staatschefs der G20 zusammensaßen, der größten Wirtschaftsmächte der Welt. Entweder ist in Moskau der Militärapparat inzwischen auf Autopilot, was wenig wahrscheinlich ist. Oder Putin ist schon alles egal, inklusive der schlechten Nachrede, die er zunehmend auch abseits der westlichen Welt hat.
Der G20-Gipfel war ein diplomatisches Desaster für Russland. In der Abschlusserklärung stand schwarz auf weiß zu lesen, dass die meisten Mitglieder den Krieg in der Ukraine „verurteilen“. Russland, das in Bali durch Außenminister Lawrow vertreten war, wurde lediglich die Anmerkung zugestanden, dass es auch andere Auffassungen dazu gebe. Den Satz, demzufolge der Einsatz von Atomwaffen und Atomdrohungen unzulässig seien, trugen die Russen mit, obwohl Putin selbst derlei Einschüchterungsversuche unternommen hatte.
Es mehren sich Anzeichen für eine wachsende internationale Isolation Russlands. China wird zwar nie Sanktionen gegen seinen strategischen Partner mittragen. Doch es macht kein Hehl mehr daraus, dass es die Nase voll hat von diesem Krieg. Xi Jinping fühlt sich womöglich gar hinters Licht geführt von Putin. Unter Berufung auf chinesische Quellen berichtete die „Financial Times“, dass der Kreml-Chef den chinesischen Präsidenten bei der Eröffnung der Olympischen Winterspiele nicht vor dem bevorstehenden Krieg gewarnt habe.
Für Putin wird es eng. Auch Verbündete verlieren die Geduld mit ihm. Er muss einen Ausweg aus dem Krieg finden. Umso nervenstärker sollte der Westen bleiben. Die übereilten Schuldzuweisungen nach dem Raketeneinschlag in Polen waren kein Zeichen von Nervenstärke. Doch auch da lohnt ein näherer Blick: Die USA hielten sich zurück, was Russland sogleich lobend hervorhob. Es kann sein, dass Putin ein Verhandlungsfenster mit Joe Biden öffnet. Aber über die Köpfe der Ukraine wird der US-Präsident nichts unternehmen. Das hat er zumindest versprochen.