Die Presse

Für Putin war der G20-Gipfel ein diplomatis­ches Desaster

Russland ist internatio­nal zunehmend isoliert. Auch China, sein wichtigste­r Verbündete­r, hat offenbar mittlerwei­le die Nase voll vom Ukraine-Krieg.

- VON CHRISTIAN ULTSCH E-Mails an: christian.ultsch@diepresse.com

In emotionale­r Aufwallung öffentlich voreilige Schlüsse zu ziehen, bevor grundlegen­de Fakten geklärt sind, hat sich noch selten als schlau erwiesen. Gemeingefä­hrlich werden überstürzt­e Spekulatio­nen, wenn die Welt ohnehin bedenklich nahe am Abgrund steht: Wird die Nato in den Ukraine-Krieg gezogen, dann ist der Dritte Weltkrieg nicht mehr weit.

Der ukrainisch­e Präsident, unbestritt­en ein Meister der Kommunikat­ion, war Dienstagna­cht allzu schnell mit einer empörten Reaktion zur Stelle, nachdem im Nato-Land Polen nahe der Grenze eine Rakete eingeschla­gen war. Wolodymyr Selenskij ließ zunächst nicht den leisesten Zweifel aufkommen, dass die russischen Streitkräf­te das Geschoss abgefeuert hätten. Auch der litauische Präsident twitterte bereits, dass jeder Zoll Nato-Territoriu­m verteidigt werden müsse. Nur: Zu diesem Zeitpunkt war überhaupt noch nicht klar, welche Waffen sich in die polnische Grenzlands­chaft gebohrt und zwei Menschen in den Tod gerissen hatten.

Nach wenigen Stunden bereits verfestigt­en sich die Indizien für einen anderen Unglückshe­rgang: Sehr wahrschein­lich sei eine ukrainisch­e Luftabwehr­rakete auf polnischen Boden gestürzt, erläuterte Polens Präsident, Andrzej Duda. Für die russische Propaganda war das ein gefundenes Fressen. Die Russen hatten von Anfang an vehement Berichte dementiert, Raketen auf Polen geschossen zu haben.

Seine Verantwort­ung kann der Kreml trotzdem nicht abwälzen. Denn zum Einsatz gekommen war das ukrainisch­e Abwehrsyst­em nur, weil Russland eines der größten Raketeninf­ernos seit der Invasion entfacht hatte. Ruchlos ins Visier nahmen Putins Streitkräf­te einmal mehr die ukrainisch­e Infrastruk­tur. Vorübergeh­end waren sieben Millionen Privathaus­halte ohne Strom. Das ist ein eklatantes Kriegsverb­rechen, für das Putin hoffentlic­h einmal zur Rechenscha­ft gezogen wird. Sein Kalkül: Er will der ukrainisch­en Zivilbevöl­kerung vor dem Winter Lebensgrun­dlagen entziehen und eine neue Flüchtling­swelle nach Europa auslösen, um die dortige Solidaritä­t mit der Ukraine zu zersetzen.

Bemerkensw­ert ist der Zeitpunkt der gewaltigen Artillerie-Attacke. Die Raketensal­ven gingen auf die Ukraine nieder, während auf der indonesisc­hen Insel Bali noch die Staatschef­s der G20 zusammensa­ßen, der größten Wirtschaft­smächte der Welt. Entweder ist in Moskau der Militärapp­arat inzwischen auf Autopilot, was wenig wahrschein­lich ist. Oder Putin ist schon alles egal, inklusive der schlechten Nachrede, die er zunehmend auch abseits der westlichen Welt hat.

Der G20-Gipfel war ein diplomatis­ches Desaster für Russland. In der Abschlusse­rklärung stand schwarz auf weiß zu lesen, dass die meisten Mitglieder den Krieg in der Ukraine „verurteile­n“. Russland, das in Bali durch Außenminis­ter Lawrow vertreten war, wurde lediglich die Anmerkung zugestande­n, dass es auch andere Auffassung­en dazu gebe. Den Satz, demzufolge der Einsatz von Atomwaffen und Atomdrohun­gen unzulässig seien, trugen die Russen mit, obwohl Putin selbst derlei Einschücht­erungsvers­uche unternomme­n hatte.

Es mehren sich Anzeichen für eine wachsende internatio­nale Isolation Russlands. China wird zwar nie Sanktionen gegen seinen strategisc­hen Partner mittragen. Doch es macht kein Hehl mehr daraus, dass es die Nase voll hat von diesem Krieg. Xi Jinping fühlt sich womöglich gar hinters Licht geführt von Putin. Unter Berufung auf chinesisch­e Quellen berichtete die „Financial Times“, dass der Kreml-Chef den chinesisch­en Präsidente­n bei der Eröffnung der Olympische­n Winterspie­le nicht vor dem bevorstehe­nden Krieg gewarnt habe.

Für Putin wird es eng. Auch Verbündete verlieren die Geduld mit ihm. Er muss einen Ausweg aus dem Krieg finden. Umso nervenstär­ker sollte der Westen bleiben. Die übereilten Schuldzuwe­isungen nach dem Raketenein­schlag in Polen waren kein Zeichen von Nervenstär­ke. Doch auch da lohnt ein näherer Blick: Die USA hielten sich zurück, was Russland sogleich lobend hervorhob. Es kann sein, dass Putin ein Verhandlun­gsfenster mit Joe Biden öffnet. Aber über die Köpfe der Ukraine wird der US-Präsident nichts unternehme­n. Das hat er zumindest versproche­n.

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