Russlands tragischer Pionier
Freeride Filmfestival. „Luzhba“sollte ein Skifilm aus Sibirien werden. Doch Russlands Überfall auf die Ukraine hat daraus ein brisantes Dokument über den Krieg und zerstörte Träume gemacht.
Eine laute, dreckige Stadt sei Nowokusnezk. „Ein trauriger Ort, in dem Menschen in schwarzen Gewändern herumgehen.“So beschreibt Anton Lementuev seine russische Heimat im Steinkohlerevier des Kusbass im Südwesten Sibiriens. Also machte sich der Bergbautechniker auf in die nahe gelegenen Berge von Luzhba, um der Tristesse der Industriestadt zu entfliehen und im Tiefschnee seine „neue Realität“zu erschaffen, wie er erzählt.
Über 20 Jahre später trafen österreichische Freerider mit Filmcrew im bitterkalten Sibirien ein – und lieferten nun zu ihrer eigenen Überraschung mit „Luzhba“ein eindrucksvolles Porträt dieses Anton Lementuev, eines russischen Skifahrers, der wegen seiner Einstellung zum Krieg in der Ukraine seine Heimat verlassen musste. Zu sehen heute beim Freeride Filmfestival im Wiener Gartenbaukino.
Während die Skiwelt mit den Auswirkungen des Klimawandels kämpft, herrscht in Luzhba, einem Ort mit nicht viel mehr als einer Zughaltestelle mit ein paar Hütten, umgeben von Wäldern und Bergen, schon Anfang November tiefster Winter mit minus 15 Grad und Pulverschnee. Dieser Umstand hat auch Filmemacher André
Costa vor einem Jahr hierhergeführt. Anton Lementuev hingegen hätte dieser eisige Winter beinahe das Leben gekostet, als er zum ersten Mal nach Luzhba kam. Ohne Geld für brauchbare Ausrüstung, mit Zeitungspapier in den teils aus der Fabrik gestohlenen Skischuhen.
Doch er sollte immer wieder zurückkehren. Luzhba wurde für ihn und seine Kameraden eine Art Tor hinaus in die Welt. Eine zweite Realität, und zwar so, wie sie die eigene wirklich haben wollten. „Es hat funktioniert“, sagt Lementuev, mittlerweile 40 Jahre, wenn er die alten Bilder durchsieht.
„Was ich erstaunlich finde: wie ähnlich Leidenschaften sein können, obwohl man Tausende Kilometer entfernt gelebt hat“, sagt Filmemacher Costa. Der Wahl-Innsbrucker wollte in Sibirien einen Abenteuerfilm drehen. Und gleichzeitig diesen Umweltaktivisten namens Anton Lementuev treffen, ihn zu den Kohleminen begleiten. Doch das Risiko dafür war zu groß, und Costas Fokus verlagerte sich schnell auf die andere Seite seines Protagonisten – den sibirischen Freeride-Pionier. „Anton und seine Freunde hatten nichts – und trotzdem haben sie die Motivation und Möglichkeiten gefunden, ihre Leidenschaft auszuleben“, sagt Costa.
Wirklich herausgekommen aus Nowokusnezk sind Lementuev und seine Kameraden aber nie. Jede noch so freudige Filmszene von „Luzhba“steckt voller Melancholie, selbst die klischeehaft betrunkenen Russen in der Sauna, oder Grigory Mintsev, der Betreiber von „Skiing in Siberia“, der über seine Liebe zu diesem Ort spricht. Dass Luzhba, auch dank Mintsev, bekannter geworden ist, findet Lementuev gut. „Wenn Leute schöne Orte besuchen, wird die Welt zu einem besseren Ort.“
Zwei Monate, nachdem André Costa und sein Team abgereist waren, startete Russland den Angriffskrieg in der Ukraine. Nach Luzhba kommen keine ausländischen Skifahrer mehr, Ski-Guide Mintsev musste sein Geschäft schließen. Weder er noch Lementuev wollten anfangs öffentlich über den Krieg sprechen, erst nach langer Diskussion gelang es Costa, Lementuev erneut vor die Kamera zu bringen. Er erreichte ihn im April in Nowokusnezk. Schon zuvor ein Regimekritiker, nimmt sich Lementuev kein Blatt vor den Mund, er bereitete sich darauf vor, ins Ausland zu gehen. Zu gefährlich sei es hier geworden.
Seine jüngsten Social-MediaEinträge hat er offenbar in Tiflis, der Hauptstadt Georgiens, gepostet. Ski gefahren sei er seit dem 24. Februar, dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine, nicht mehr, erzählt er noch im Film. „Ich kann nicht Ski fahren, wenn Leute sterben.“Seine Botschaft ist auch die von „Luzhba“: Russland, das ist nicht nur Bomben und Krieg, sagt Anton Lementuev, der sibirische Skipionier. „Russland ist Schnee und freundliche Leute.“