Brauchen wir Recht auf Nichterreichbarkeit?
Arbeitsrecht. Viele Beschäftigte schalten ihr Diensthandy nie aus – den Druck, immer erreichbar zu sein, machen sie sich teils auch selbst, im Home-Office umso mehr. Eine Studie zeigt die Nachteile auf. Sollte der Gesetzgeber eingreifen?
wien. Mehr Flexibilität beim Arbeiten, keine starren Arbeitszeiten, auch keine tägliche Anwesenheitspflicht im Betrieb: Für viele Berufe bleibt das illusorisch, für andere gehört es zur neuen Normalität. Das Home-Office während der Pandemie wurde zum gigantischen Feldversuch, wir wissen jetzt: Bei Tätigkeiten, für die man vor allem digitale Arbeitsmittel braucht, muss sich Flexibilisierung nicht in Gleitzeit erschöpfen. Dort kann auch Telearbeit funktionieren.
Viele Beschäftigte haben hybrides Arbeiten während der Pandemie kennengelernt und wollen es nicht mehr missen – weil es mehr Autonomie bedeutet, weil man sich Wegzeiten spart und vor allem, weil sich Beruf und Privatleben so meist besser vereinbaren lassen. Bei einer von der EU-Forschungsstelle Eurofound im Vorjahr durchgeführten Umfrage deuteten über 45 Prozent zumindest an, dass sie gern weiterhin teilweise von zu Hause arbeiten wollen. Aber wo liegt die Grenze zwischen Vereinbarkeit und einem diffusen Verschwimmen von Arbeit und anderen Lebensbereichen? Bedeutet der Wegfall der Ortsgebundenheit automatisch auch ständige OnlinePräsenz? Oder anders gefragt, braucht es ein dezidiert festgeschriebenes Recht der Beschäftigten auf Nichterreichbarkeit, aufs zeitweise Abschalten der elektronischen Kommunikation?
Darum ging es in einem vom Wissenschaftsnetz Diskurs veranstalteten Mediengespräch. Eurofound präsentierte eine europäische Studie zum Thema, Martin Gruber-Risak, Professor für Arbeitsund Sozialrecht an der Uni Wien, stellte die rechtliche Situation in Österreich dar. Home-Office ist bei alldem nur ein Aspekt, allerdings ein wesentlicher: Laut EurofoundUmfragen – zuletzt im Jahr 2021, aber auch schon zuvor im Jahr 2015 – werden im Home-Office tendenziell sogar mehr Überstunden gemacht. Bei der jüngsten Befragung waren auch Angaben zu Überlastungsfolgen – von Kopfweh bis hin zu Burn-out – häufiger. Gerade
wegen der verbesserten Vereinbarkeit von Beruf und Familie meinen viele, im Home-Office umso mehr ihre ständige Verfügbarkeit für den Job beweisen zu müssen.
„Harter“oder „weicher“Ansatz
Aber wie ist nun wirklich die Rechtslage? Auf EU-Ebene gebe es keine konkreten Vorschriften zum Recht auf Nichterreichbarkeit, erklärte Eurofound-Forschungsleiterin Tina Weber – wohl aber bestehen autonome Rahmenvereinbarungen der europäischen Sozialpartner dazu. Und es gibt eine Resolution des Europäischen Parlaments an die EU-Kommission für eine solche Regelung, auch Sozialpartnerverhandlungen laufen. Im nationalen Recht haben laut Weber sieben Mitgliedsländer schon konkrete Regelungen dafür, in einer Reihe weiterer Länder seien Gesetzgebungsinitiativen und politische Debatten im Gang.
Dabei gebe es zwei Ansätze, ein Recht auf Abschalten auf Unternehmensebene durchzusetzen: den „harten“, der darin besteht, arbeitsbezogene Mail-Kommunikation zu bestimmten Zeiten zu unterbrechen
WIrtsCHAFts RE©HT diepresse.com/wirtschaftsrecht
– wie es etwa VW seit Jahren praktiziert. Und den „weichen“, der häufiger ist und im Wesentlichen auf Eigenverantwortung und Sensibilisierung beruht, etwa durch Erinnerungen, dass man nicht außerhalb der Arbeitszeit auf Nachrichten antworten muss.
Und in Österreich? Da sollte die Rechtslage an sich klar sein, betont Arbeitsrechtler Gruber-Risak: Das Arbeitszeitgesetz schreibt nach Arbeitsende eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden vor, Rufbereitschaft darf zudem nur an zehn Tagen pro Monat vereinbart werden. Wird man während dieser Zeiten zur Arbeit herangezogen, so muss ein Teil der Ruhezeit jedenfalls acht Stunden betragen. Für Verstöße drohen Arbeitgebern Geldstrafen. „Folgt man dieser formalen Logik, bedarf es keines Rechts auf Nichterreichbarkeit, da ohnehin während der Ruhezeit ein Arbeitsverbot besteht“, sagt Gruber-Risak.
Das Problem liege aber in den in der Praxis verschwimmenden Grenzen „zwischen Arbeitszeit und Freizeit, zwischen Freiwilligkeit und Zwang“. Um einer gesundheitsschädlichen „Kultur der
Dauerverfügbarkeit“entgegenzuwirken, müsse effektiv gewährleistet werden, dass seitens der Arbeitgeber „eine Kommunikation erst dann erfolgt, wenn die Arbeitszeitdokumentation zu laufen beginnt“. Gruber-Risak plädiert dafür, das explizit gesetzlich festzuschreiben. „Und in Betrieben mit Betriebsrat sollte die Möglichkeit zum Abschluss derartiger Betriebsvereinbarungen vor einer Schlichtungsstelle erzwingbar sein.“
VON CHRISTINE KARY
Die Angst vor der Stechuhr
Was gleich zum nächsten heiklen Thema führt – den Arbeitszeitaufzeichnungen. In Deutschland gab es zuletzt viel Aufregung um eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, wonach Arbeitgeber verpflichtet sind, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Und das nicht erst seit jenem einschneidenden EuGH-Urteil, das im Jahr 2019 dazu ergangen ist (C-55/18). Kommt jetzt womöglich die Stechuhr zurück, ist Vertrauensarbeitszeit passé? So lauten die bangen Fragen im Nachbarland.
Zum Teil schwappte die Debatte auch auf Österreich über – freilich ist hier seit jeher klar, dass Vertrauensarbeitszeit nicht gesetzlich gedeckt ist. „Österreich hatte im EU-Vergleich schon bisher die wohl strengsten Vorgaben für Arbeitszeitaufzeichnungen“, sagt Brigitte Sammer, Rechtsanwältin in der auf Arbeitsrecht spezialisierten Kanzlei Gerlach Löscher Littler, zur „Presse“. „Im Wesentlichen entsprechen die österreichischen Regelungen den Anforderungen des EuGH.“Aber: Etwa im Außendienst oder wenn man überwiegend im Home-Office ist, reichen gemäß Arbeitszeitgesetz Saldenaufzeichnungen über die Dauer der Tagesarbeitszeit, ohne dass Beginn und Ende sowie die Lage der Pausen ausgewiesen werden müssen. Laut EuGH lässt sich so aber z. B. die Einhaltung der Ruhezeiten nicht kontrollieren. „Bei EU-rechtskonformer Umsetzung“seien daher etwa auch fürs HomeOffice exakte Arbeitszeitaufzeichnungen zu führen, sagt Sammer.