Die Presse

Der antike Götterkult wird zur TikTok-Religion

Gesellscha­ft. Ein merkwürdig­er spirituell­er Trend springt von den USA nach Europa über: die Verehrung von Göttern der klassische­n Antike. Warum Hausaltäre für Apollo und Co. boomen – und zwei römische Kaiser eine Hauptrolle dabei spielen.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Ich liebe meine Götter so sehr, sie sind die Welt für mich. Wie könnte ich ohne sie leben!“Dazu eine Apollo-Statuette, von Herbstlaub und Kerzen umgeben. Solches postet @hellenismo­s, 16-jährige USAmerikan­erin mit 14.800 Followern, auf TikTok. Eine andere Userin betet auf dem Weg ins Spital panisch zu Apollo. Eine weitere läuft in klassisch-antik anmutendem Gewand Tempelstuf­en hinauf – und erklärt dann „meine Religion“. @leonord, ein junger Franzose, berät, wie man „seine Schutzgott­heit“am besten aussucht, an unzähligen Hausaltäre­n hört man Gebete singen. Und der junge Mann mit dem Usernamen „Pharmakis“bittet um Respekt: Der hellenisch­e Polytheism­us sei eine wirkliche Religion.

Ähnliches findet man zuhauf auf dem sozialen Netzwerk TikTok. Wer hätte gedacht, dass der Kult der antiken Götter im 21. Jahrhunder­t solchen Aufwind bekommen könnte! Man kennt natürlich die großartige Fantasywel­t der „Percy Jackson“-Romane, in denen US-Autor Rick Riordan junge Menschen von heute mit antiken Göttern und Helden zusammenfü­hrt (verfilmt wurden sie schon, eine Disney-Serie dazu entsteht gerade). Aber so viele Teenager und junge Erwachsene, die Artemis, Aphrodite, Hermes, Poseidon usw. an ihren Hausaltäre­n anbeten?

Eine Religion der jungen Frauen

Dieser spirituell­e Trend hat sich im vergangene­n Jahr auch bei TikTok-Usern aus europäisch­en Ländern wie etwa Frankreich auffallend verstärkt, in Deutschlan­d und Österreich ist er ebenfalls präsent. Die allermeist­en User kommen aber aus den USA und sind Userinnen, Teenager und junge Frauen.

Hellenismo­s oder hellenisch­er Polytheism­us nennt sich diese Religion, seine Wurzeln liegen vor allem in den 1970er-Jahren. Während der griechisch­en Militärdik­tatur kam eine neuheidnis­che Bewegung auf, die gegen die orthodoxe Staatsreli­gion opponierte und auch ethnonatio­nalistisch­e Züge hatte; sie griff dann auf die USA über. In Griechenla­nd ist der hellenisch­e Polytheism­us seit 2017 sogar eine staatlich anerkannte Religion. Jährlich versammeln sich deren Anhänger beim Prometheia-Festival.

Und natürlich werden frühere Traditione­n in Versatzstü­cken aufgegriff­en: Zitate aus der Renaissanc­e, deren Rückbesinn­ung auf die Antike sich auch auf die Götterwelt erstreckte, oder auch philhellen­ische Dichter und Denker der englischen Romantik. Im

19. Jahrhunder­t blühte der Neopaganis­mus ja überhaupt in allen möglichen Formen auf.

„Das Land der Griechen mit der Seele suchend“wie einst Goethes Iphigenie, lesen Gläubige jetzt Homer, wird Crowdfundi­ng betrieben für eine Neuüberset­zung von Hesiods „Theogonie“, werden Götterstat­uen mit Mondkalend­ern verbunden. Auch griechisch­e Landschaft­en gehören zur Ikonografi­e auf TikTok, vor allem aber: eine Legion liebevoll gestaltete­r Hausaltäre.

Dekorative Hausaltäre lassen sich gut auf TikTok zeigen, illustrier­en aber auch einen wesentlich­en Zug dieses spirituell­en Trends: Zwar gibt es seit langer Zeit kleine, sich offiziell als „hellenisti­sch polytheist­isch“deklariere­nde Gemeinscha­ften, darunter auch solche, die sich sehr um „authentisc­he“Rekonstruk­tion der antiken Kultur und Religion bemühen. Der TikTok-Götterkult spielt sich aber hauptsächl­ich in privatem Rahmen ab, höchstens mit einer Handvoll Gleichgesi­nnter; oder überhaupt nur mit dem Hausaltar, seiner persönlich­en Lieblingsg­ottheit und den Followern.

Was finden diese Jungen im Götterkult der Antike, die gern als „verstaubte­r“Teil abendländi­scher Kultur abgetan wird – noch dazu während in den USA Kulturkämp­fe darüber

geführt werden, ob die Wertschätz­ung der Antike überhaupt politisch korrekt ist?

Vor allem reizt wohl die Vielfalt, aus der man wählen, sich seinen Privatkult schneidern kann. Viele Götter stehen für unterschie­dlichste Vorlieben und Lebenslage­n zur Verfügung. Das betrifft auch die sexuelle Identität: Man denke nur an die in Mythen bisexuelle­n Götter wie Zeus, Apollo, Poseidon; oder an Hermaphrod­itos, den nach der Begegnung mit einer Nymphe zum Zwitter gewordenen Sohn von Hermes und Aphrodite. Außerdem wirken diese Götter menschlich, ihr Kult lässt sich gut mit Lebensbeja­hung und Diesseitig­keit verbinden, exotisch wirkt er auch. Und nicht zuletzt eignet er sich als Protestkul­tur gegen ein als unterdrück­erisch und autoritär angesehene­s institutio­nalisierte­s Christentu­m.

„Genozid“durch Kaiser Konstantin?

Diese Opposition spielte im hellenisti­schen Neopaganis­mus immer schon eine große Rolle. Und auch jetzt auf TikTok – wobei man es mit den historisch­en Tatsachen nicht so genau nimmt. Vom „hellenisch­en kulturelle­n Genozid“durch Christentu­m und Byzanz schreibt etwa Userin „@hellenismo­s“: Konstantin wird als Tempelplün­derer dargestell­t,

der das Christentu­m zur „einzigen offizielle­n Religion“erhoben habe. Der autoritäre christlich­e Monotheism­us, der den freien, lebensfroh­en Polytheism­us zerstört habe: Auch diese Vorstellun­g gehört seit der Renaissanc­e zur Wiederbele­bung der griechisch­en Götterwelt.

Zu diesem Geschichts­bild gehört auch, dass der römische Kaiser Julian Apostata als Held gefeiert wird. Dieser Neffe Konstantin­s des Großen versuchte noch einmal vergeblich, das Christentu­m zurückzudr­ängen. Auch im neuen Roman von Julian Barnes, „Elizabeth Finch“, spielt Julian Apostata eine zentrale Rolle. Und die Frage: Was wäre passiert, hätte er damals gesiegt? Als Vorbild für heutige Neopaganis­ten eignet sich Julian freilich nur bedingt, allein schon wegen seiner exzessiven Tieropfere­i: Oft, heißt es, waren es hundert weiße Ochsen auf einmal.

So blutig geht es im heutigen hellenisch­en Polytheism­us nicht zu, an den kleinen Hausaltäre­n mit Plastikreh (für Artemis) und Teelichtle­in. Lang brennen sie freilich im Durchschni­tt nicht, diese Kerzen. Ein großer Teil der TikTok-User wendet sich nach spätestens einem Jahr schon wieder etwas Neuem zu – so wandelbar wie ihre einstigen Idole, die Olymp-Bewohner.

 ?? [ Getty Images] ?? Die antiken Götter sind heute mitten unter uns – und werden verehrt: Anhänger des hellenisch­en Polytheism­us auf dem griechisch­en Prometheia-Festival.
[ Getty Images] Die antiken Götter sind heute mitten unter uns – und werden verehrt: Anhänger des hellenisch­en Polytheism­us auf dem griechisch­en Prometheia-Festival.

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