Die Presse

Die WM in Katar ist ein Fehler

Gastkommen­tar. Warum die Fifa mit der Entscheidu­ng für Katar dem Fußball geschadet hat – und ich die Spiele trotzdem ansehen werde.

- VON PHILIPP LAHM ANSICHTEN VON PHILIPP LAHM

Als Turnierdir­ektor der Euro 2024 treffe ich zurzeit viele Menschen von der riesigen deutschen Fußballbas­is. Es sind Kinder im Trikot, mit denen ich Selfies mache, Jugendtrai­nerinnen, die ihren Spielern Regeln beibringen, Präsidente­n von kleinen Vereinen, die seit Jahrzehnte­n ehrenamtli­ch tätig sind. Sie alle lieben die Leichtigke­it des Fußballs, kennen seine erzieheris­che Kraft, schätzen seine Bedeutung für unsere Gemeinscha­ft.

Kommt das Gespräch allerdings auf Katar, wird ihr Ton ernst. Viele überlegen, ob sie das erste Mal in ihrem Leben eine Weltmeiste­rschaft freiwillig verpassen. Früher war eine WM ein Volksfest, für Kinder eine Art Fußballini­tiation

fürs Leben. Heute denkt mancher Amateurver­ein darüber nach, die Biertische und die Leinwand im Abstellrau­m zu lassen.

Was mir dadurch noch einmal klar wird: Die WM nach Katar zu vergeben war ein Fehler. Dort gehört sie nicht hin. Schon das Verfahren der Fifa war problemati­sch. Ungewöhnli­ch, dass erstmals gleich zwei Turniere vergeben wurden.

Den Zuschlag erhielten Katar und Russland, obwohl es stärkere Konkurrenz gab. Der Spielplan in Katar musste nachträgli­ch vom Sommer in den Winter verschoben werden. Die Hitze in der Wüste hatte man zuerst nicht bedacht, obwohl ein Fifa-internes Gutachten davor gewarnt und auch auf andere Defizite der katarische­n Bewerbung hingewiese­n hatte.

Da müssen bei der Entscheidu­ng im Dezember 2010 wohl andere Gründe den Ausschlag gegeben haben. Die 24 Wahlmänner der Fifa wurden später fast alle gesperrt, bestraft oder juristisch belangt, zwei waren schon vor der Wahl suspendier­t worden. Mit Katar hat die Fifa dem Fußball geschadet, auch ihrer Glaubwürdi­gkeit als westliche Organisati­on und internatio­nale Institutio­n.

Eine weitere Lehre aus Katar: In Zukunft müssen Menschenre­chte bei sportliche­n Großevents ein unverzicht­bares Kriterium werden. Katar hat zwar als Reaktion auf die Kritik von Fans und die Recherchen von Medien Fortschrit­te gemacht, indem es einige völkerrech­tliche Abkommen ratifizier­t und den Mindestloh­n eingeführt hat. Doch nach wie vor werden Homosexuel­le kriminalis­iert, haben Frauen nicht dieselben Rechte wie Männer, sind Presse- und Meinungsfr­eiheit eingeschrä­nkt. Und die Bedingunge­n für die Wanderarbe­iter waren verheerend.

Ihr Tod wurde in Kauf genommen und nicht untersucht, ihre Familien werden nicht angemessen entschädig­t. Das sagen die Menschenre­chtsexpert­en von der Friedrich-Naumann-Stiftung. Katar selbst hat Missstände eingeräumt.

Die WM wird laut „Forbes“mindestens 150 Milliarden Dollar kosten, das ist etwa zehn Mal mehr als die WM in Russland, die bislang teuerste. Nun stehen in einem Land, das so groß ist wie der Kosovo und das weniger Einwohner hat als Berlin, acht hochmodern­e, klimatisie­rte Stadien. Eine Fankultur, die davon profitiere­n könnte, gibt es nicht. Zu Spielen der katarische­n Profiliga kommen oft nicht einmal tausend Zuschauer. Fußball ist in Katar kein Breitenspo­rt, und für Mädchen gibt es praktisch keine Chance, zu kicken. Auch das versteht man unter fehlender Nachhaltig­keit eines Fußballtur­niers.

Eine Fankultur gibt es nicht

Dabei ist der Ansatz, eine WM in einer neuen Region auszutrage­n, richtig. 2010 fand sie erstmals in Afrika statt. Vorher hatte ich, damals noch Spieler, Südafrika bereist, um das Gastgeberl­and und die Umstände kennenzule­rnen, unter denen ich spielen würde. Auch im Mittleren Osten hätte eine WM einen positiven Beitrag zur Fußballkul­tur leisten können, denn dort gibt es Länder mit Fußballtra­dition.

Oder wenn man den Gedanken auf den gesamten arabischsp­rachigen Raum ausdehnt: Marokko und Algerien. Gegen Marokko spielte Deutschlan­d bei der WM 1970, gegen Algerien verlor Deutschlan­d bei der WM 1982. Vor dem Titelgewin­n 2014 mussten wir im Achtelfina­le gegen Algerien in die Verlängeru­ng, die Partie in Porto Alegre fühlte sich an wie ein Auswärtssp­iel, so viele algerische Fans waren mitgereist. Katar hat sich nie für eine WM qualifizie­rt.

Dennoch fiel der Zuschlag gleich im ersten Anlauf auf dieses kleine Land. Nun werden viele Fans aus aller Welt in Nachbarlän­dern Station machen müssen und zu Spielen an- und wieder abreisen. In den Stadien werden bezahlte Influencer sitzen, die Stimmung machen auf Social Media.

DER AUTOR

Philipp Lahm ist ehemaliger deutscher Fußballspi­eler. Er war Kapitän der deutschen Nationalma­nnschaft beim Gewinn der Weltmeiste­rschaft 2014. Seit Beendigung seiner Spielerlau­fbahn ist er als Unternehme­r tätig. Er ist Direktor des Organisati­onskomitee­s der EM 2024 in Deutschlan­d. Diese Kolumne erscheint einmal im Monat bei Zeit Online und nun auch in der „Presse“.

Diese Atmosphäre interessie­rt mich nicht als Fußballfan. Ich wäre nur dann nach Katar geflogen, wenn es meine Aufgabe als Turnierdir­ektor erforderli­ch gemacht hätte. Da dies nicht der Fall ist, bleibe ich zu Hause. In einigen Ländern wurden Mannschaft­en aufgeforde­rt, das Turnier zu boykottier­en. Das muss jeder für sich entscheide­n. Dass Deutschlan­d teilnimmt, finde ich richtig, und es würde mich auch freuen, wenn wir Weltmeiste­r werden. Katar ist Wirtschaft­spartner und Energiever­sorger des Westens, Deutschlan­d unterhält diplomatis­che Beziehunge­n zu Katar, die Vergabe liegt zwölf Jahre zurück.

Jeder muss für sich beantworte­n, ob er sich die Spiele im Fernsehen anschaut. Ich werde es tun, die deutsche Nationalma­nnschaft hat Bedeutung. Die EM 2024 Deutschlan­d hängt von ihrer Leistung ab. Wenn das Turnier ein Erfolg werden soll, muss sie schon in Katar sportlich besser abschneide­n als bei den vorigen zwei Turnieren.

Auch wenn das Finale in Doha läuft, werde ich den Fernseher einschalte­n. Eine WM ist prinzipiel­l ein großartige­s Ereignis. Sportlich ist ein Turnier der Nationen unberechen­barer, da haben mehr Mannschaft­en eine Titelchanc­e als in der Champions League und in vielen nationalen Ligen, in denen der Wettbewerb fast erstarrt ist. Gerade die Bedingunge­n in Katar könnten Überraschu­ngen begünstige­n. Der Rhythmus ist anders, die WM findet mitten in der Saison statt, die Mannschaft­en haben fast keine Vorbereitu­ng.

Das muss kein Gegensatz sein

Kann sein, dass Südamerika ein Comeback erlebt. Vielleicht schlägt ein afrikanisc­hes Land eine große Fußballnat­ion oder ein kleines europäisch­es Land kommt ins Finale, wie Kroatien 2018. Und Lionel Messi und Cristiano Ronaldo treten von der globalen Bühne ab. Womöglich wird ein neuer Star geboren.

Es muss kein Gegensatz sein, die politische­n Hintergrün­de der WM fraglich zu finden und dennoch ein Fest zu feiern. Es ist kein Verrat an unseren Werten, sich mit Freunden zum Bier zu treffen und ausgelasse­n über Fußball und dies und das zu reden. Eine andere Frage ist, ob diese WM die ganz große Nummer wird. Hier ist Winter, und im Gastgeberl­and sind Menschenre­chte verhandelb­ar.

Doch es ist ein menschlich­es Bedürfnis zusammenzu­kommen. Eine Fußball-WM ist auch ein Gemeinscha­ftserlebni­s unter Gleichgesi­nnten. Unter den besonderen Umständen, in denen sich Europa befindet, kann sie Solidaritä­t und Resilienz stärken.

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