Die offenen Flanken der Sele¸c˜ao Brasiliens große Schwachstelle
Der eindrucksvolle WM-Kader des Titelfavoriten hat eine Achillesferse: die Außenverteidiger. Über die großen Fußstapfen von Cafu, Roberto Carlos und Co.
Lusail/Wien. Dani Alves wusste, dass er nicht wirklich erwünscht war. Zumindest bei vielen Anhängern des brasilianischen Nationalteams. Denn bei aller glorreichen Vergangenheit – der Rechtsverteidiger ist mittlerweile 39 Jahre alt, war zwischenzeitlich vereinslos und spielt neuerdings beim mexikanischen Nachzügler Unam Pumas. Seine Einberufung in den WM-Kader ist Sinnbild für die große Schwachstelle im sonst so eindrucksvollen Aufgebot der Seleça˜o: Es gibt auf den beiden Außenverteidigerpositionen keine Spieler von Weltklasseniveau. Alves stellte sich dennoch trotzig in den Gegenwind und meinte: „Ich bin nicht hier, um irgendjemanden zu gefallen.“
Welche Optionen aber hat Teamchef Tite? Da wäre das logische Juventus-Duo Danilo (rechts) und Alex Sandro (links). Danilo, 31, wurde in Turin zuletzt aber zum Innenverteidiger umfunktioniert. Und Sandro, 31, ist keiner, der die Position des Linksverteidigers so interpretiert, wie es in Brasilien üblich ist, nämlich auch als linker Außenstürmer. Immerhin: Im Nationalteam haben Danilo und Sandro wenig zugelassen, nur fünf Tore hatte man in der gesamten südamerikanischen WM-Qualifikation kassiert.
Silvas folgenschwerer Auftritt
Weil bei der WM nun früher oder später andere Kaliber warten, könnte es sich bitter rächen, dass Brasilien schon lang keine Außenverteidiger vom Rang eines Cafu, Roberto Carlos, Marcelo oder eben eines Dani Alves zu seinen Glanzzeiten hervorgebracht hat. Letzterer ist in Katar zwar nur als Ersatzmann vorgesehen, überhaupt dabei ist er aber, weil Teamchef Tite zahlreiche Optionen auf den Außenbahnen abhandengekommen sind.
Etwa Fagner, der bei der WM 2018 den verletzten Alves auf der rechten Seite ersetzt hatte. Er ist inzwischen 33 Jahre alt und hat ein schwache Saison in der heimischen Liga (Corinthians) hinter sich. Bei Linksverteidiger Guilherme Arana, aus Sevilla nach Brasilien zurückgekehrt, hatte die Nationalteamkarriere hingegen gerade Fahrt aufgenommen. Dann zog er sich eine Knieverletzung zu. Und Renan Lodi, 24-jähriger Linksaußen, gilt in Brasilen als Sündenbock für die 0:1-Niederlage gegen Argentinien im Finale der Copa América im Vorjahr.
Außerdem hat er eine Einberufung verpasst, weil er nicht gegen Covid-19 geimpft war und wurde von Atlético Madrid zu Nottingham Forest verliehen, weil er sich in Spanien nicht durchsetzen konnte.
Doch zurück nach Katar. Dort wartet auf Teamchef Tite ein weiteres Problem, das seinen Außenverteidigern eine noch größere Rolle bescheren könnte. Offenbar wurde es vor knapp einem Monat in der englischen Premier League, als Brasiliens Abwehrchef Thiago Silva wohl eines der schlechtesten Spiele seiner Karriere ablieferte. Beim 1:4 gegen Brighton & Hove agierte der 38-jährige Chelsea-Innenverteidiger derart fehlerhaft und unsicher, dass Zweifel an seiner Konstanz und Führungsstärke aufkamen. Brasiliens Rechtsverteidiger, wer immer es in Katar auch sein wird, muss also auch defensiv eine Schlüsselrolle neben Thiago Silva einnehmen. Deshalb wird Éder Milita˜o plötzlich zur ernsthaften Option, obwohl bei Real Madrid vorwiegend als Innenverteidiger im Einsatz.
Cafu in Katar
Brasiliens größter Rechtsverteidiger weilt indes ebenfalls in Katar. Cafu, bürgerlich Marcos Evangelista de Moraes, ist Rekordspieler der Seleça˜o (142 Einsätze), der einzige Fußballer, der in drei WM-Finalspielen (1994, 1998, 2002) aufgelaufen ist, und nun einer der internationalen WMBotschafter. Der 52-Jährige kennt das Problem der aktuellen Auswahl: „Ich weiß nicht, warum wir auf diesen Positionen so wenige Spieler haben. Aber es ist nicht nur das Nationalteam, wir sehen das auch in den Klubs“, meint Cafu. Allerdings: „Es ist unfair, diese Spieler mit uns zu vergleichen. Jeder, der als Rechts- oder Linksverteidiger spielt, hat viel Verantwortung. Sie müssen Spieler ersetzen, die Geschichte geschrieben haben für Brasilien.“