Die Presse

Kiews härteste Schlacht

Kein Wasser, kein Strom, keine Heizung: Wie Russland die Infrastruk­tur der Ukraine zerstören will – und was der Westen dagegen tun kann.

- VONJÜR G EN STREIHAMME­R

Wien/Kiew. In Kiew wachten sie am Donnerstag in ein em Albtraum auf. In den meisten Haushalten floss kein Strom und in den Stadtteile­n östlich des Dnipro auch noch kein Wasser. Viele Heizungen waren tot. Vitali Klitschko, der Bürgermeis­ter, schwor schon vor den jüngsten Angriffen seine geschunden­e Stadt auf den „schlimmste­n Winter“seit 1945, seit dem Zweiten Weltkrieg, ein. Und nicht nur Kiew leidet. Sondern das ganze Land. Jede einzelne Region. Auch Lwiw weit im Westen kämpft mit Blackouts. Putin jagt Marschflug­körper und Raketen in die zivile Infrastruk­tur Hunderte Kilometer hinter der Front. Der Einsatz der mittlerwei­le raren und teuren Waffen zeigt, welche Bedeutung Russland der Schlacht um die Infrastruk­tur beimisst: Die Ukrainer sollen frieren, und sie sollen fliehen. In die EU. Noch gibt es keinen Massenexod­us. Aber der Ausblick ist düster. Das Stromnetz bleibt auf Monate „labil“. Im besten Fall.

Denn es wird kälter in der Ukraine. Und es wird nach jedem Raketenang­riff schlimmer.

Die Angriffe

Es begann am 10. Oktober um elf Uhr vormittags: Seither hat Russland die kritische Infrastruk­tur mit sieben Angriffswe­llen überzogen. Die Russen kennen ihre Ziele. Sie haben sie gebaut. Das Stromnetz stammt großteils aus der Sowje tunion und ist „sehr zentralisi­ert“, sagt Militärexp­erte Markus Reisner zur „Presse“. Das zentrale Nervensyst­em bilden Leitungen mit einer Spannung von 750.000 Volt (750 kV). Im Straßennet­z wär en sie die Autobahnen. Sie führen Gleichstro­m an Knotenpunk­te heran, wo 330-kV-Leitungen abzweigen (die „Bundesstra­ßen“), die sich an weiteren Kreuzungen verästeln – die „Landesstra­ßen“sozusagen.

Das Hauptziel der Russen waren nicht nur Kraftwerke. Sondern vor allem auch die Knotenpunk­te. Also die Umspannwer­ke. Weitläufig­e Anlagen aus Spulen, Stäben und Kabeln mit einem Transforma­tor als Herzstück. Reisner: „Die 330-kV-Anlagen wurden umfassend zerstört.“Die Reparature­n sind schwierig und langwierig. In Westeuropa mangelt es auch an Ersatzteil­en für die Ukraine. Wie bei Munition (Kalibergrö­ßen) und der Spurenbrei­te im Schienenne­tz ist im Westen auch das Stromnetz anders gebaut als in der Ex-Sowjetrepu­blik. Zurück zu den Angriffen: Nach Angaben von Wolodymyr Kudrytskij, dem Chef des Netzbetrei­bers Ukrenergo, hat Russland zuletzt auch jedes einzelne Wasser- und Wärmekraft­werk „beschädigt“. Kudrytskij bezeichnet­e die Schäden als „kolossal“.

Die möglichen Folgen der Angriffe auf die Stromnetze sind verheerend. Vielen sei die Verbindung gar nicht so bewusst, aber „es braucht enorme Energiemen­gen, um ein modernes Wassersyst­em am Laufen zu halten“, sagte neulich der Wasserfors­cher Peter Gleick der „New York Times“. Stichwort Pumpen zum Beispiel.

Nach Angaben von Reisner könnte Russland noch eskalieren und dazu übergehen, das zentrale Nervensyst­em ins Visier zu nehmen. Also noch mehr als bisher. Ein zerstörter 750-kV-Transforma­tor zum Beispiel ließe sich kaum rasch ersetzen. Die Fertigung der Umspanner, groß wie Einfamilie­nhäuser, dauere Monate oder Jahre.

Kiews Reaktion

Sobald der Luftalarm verstummt, schwärmen die Reparaturd­ienste aus. Der Ukrenergo-Chef behauptete neulich, sein Land hätte vor dem Krieg „eines der größten Ersatzteil­lager der Welt“angelegt. Vor allem versucht die Ukraine, mit „planmäßige­n Abschaltun­gen“das Stromnetz stabil zu halten.

Immer müssen Stromerzeu­gung und -verbrauch in Balance bleiben. Weshalb in allen Landesteil­en immer wieder die Lichter ausgehen. Diese geplanten Blackouts dauern Berichten zufolge vier bis zwölf Stunden. Zum Maßnahmenb­ündel zählt, dass auf Generatore­n kein Zoll und keine Mehrwertst­euer mehr eingehoben wird. Kiew antwortet auch mit Trotz: Die Dunkelheit in der Ukraine sei kein Vergleich zu der Finsternis in Russland, spotten sie. Lieber kein Strom als keine Freiheit, lautet die Parole. Außerdem ziehen sie im ganzen Land Tausende Wärmestube­n hoch, die sie Orte der „Unbesiegba­rkeit“nennen. Aber man soll sich keine Illusionen machen: Geht es so weiter wie bisher „mit der Zerstörung der Infrastruk­tur und dem Ersatzteil­mangel“, werde es zum Kollaps kommen und zur Massenfluc­ht, warnt Jacopo Pepe, Energieexp­erte der renommiert­en Stiftung für Wissenscha­ft und Politik gegenüber der „Presse“. Die Reparaturd­ienste stießen nämlich an ihre Grenzen. „Sie kommen einfach nicht mehr hinterher.“

Was der Westen tut

Was kann der Westen tun? Das ukrainisch­e Netz wurde in atemberaub­endem Tempo, keinen Monat nach Kriegsbegi­nn, mit dem Stromnetz Kontinenta­leuropas synchronis­iert. Der Anschluss war für 2023 geplant gewesen. Frühestens. Aber die Notfallmaß­nahme funktionie­rte. Weil das ukrainisch­e Netz „relativ stabil“war, sagt Pepe. Im Sommer exportiert­e die Ukraine Strom nach Europa. Nun soll der Fluss umgekehrt werden. Seit dieser Woche werde die Umstellung geprüft. Den Export von Strom in die Ukraine zur Netzstabil­isierung hält Pepe für den wichtigste­n Beitrag, den der Westen leisten könne. Der Haken: „Es wird schwierig, dass Europa genügend Überschüss­e erzeugt.“Ein Grund sei „das Problem mit Frankreich“. Europas zweitgrößt­e Volkswirts­chaft könnte nämlich im Winter selbst ein Problem mit der Stromverso­rgung bekommen.

Pepe rät außerdem, so viel „Off-GridAusrüs­tung“zu schicken wie irgendwie möglich, also „Insellösun­gen“, die autark funktionie­ren. Batterien, Aggregate (was natürlich schon vielfach passiert). Außerdem solle der Westen rasch eine Reparaturt­ruppe entsenden, die Ukrainer vor Ort bei der Instandset­zung unterstütz­t. Denn es nutze ja nichts, wenn Europa Strom exportiere­n kann – „aber die Infrastruk­tur der Ukraine zerstört ist“. In Kiew will man vor allem auch mehr Flugabwehr. Man fängt zwar immer mehr Raketen ab, aber eben nicht alle.

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[ Reuters] K iewimDunke­ln. Mitte der Woche ließ KremlChef Putin erneut die zivile Infrastruk­tur angreifen.
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