Wenn Erwachsene schreiben lernen
Die Zahl der Analphabeten unter den Flüchtlingen steigt. Das erschwert das Deutschlernen. Ein Lokalaugenschein.
Gesund, gibt, Gift, Gott, Gold, gut: Diese sechs Wörter stehen untereinander auf dem DIN-A4-Blatt. Auf den langen waagrechten Linien daneben wird jedes der Wörter mehrmals geübt. Buchstabe für Buchstabe wird mühevoll aufs Papier gebracht. „Sehr schön geschrieben“, „Toll, wie du das machst“, hört man Werner Alth sagen. Er spricht hier nicht mit erst kürzlich eingeschulten Tafelklasslern. Sondern mit Erwachsenen – mit Erwachsenen, die gerade die lateinische Schrift lernen.
Es ist die vierte Woche im Alphabetisierungskurs des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF). Zehn Teilnehmer haben an diesem Vormittag im Seminarraum des BFI-Kursinstituts im zehnten Wiener Gemeindebezirk Platz genommen. Der Großteil der sieben Männer und drei Frauen in der Gruppe ist in den vergangenen Monaten aus Syrien und Afghanistan nach Österreich gekommen. Ihnen wurde Asyl oder subsidiärer Schutz zuerkannt. Nun sollen und wollen sie Deutsch lernen. Dabei geht es um mehr als um die Sprache. Es geht auch um die (lateinische) Schrift. Denn lesen und schreiben können sie diese bislang nicht.
Genau dieser steigende Alphabetisierungsbedarf unter Flüchtlingen hat den Integrationsfonds zuletzt Alarm schlagen lassen: „Der niedrige Bildungsstand erschwert die sprachliche Integration maßgeblich“, sagte Carla Pirker vom ÖIF. Von den rund 4000 Personen, die in Österreich heuer Asyl oder subsidiären Schutz erhielten und seither einen Deutschkurs besuchten, konnten fast 3000 die Schrift nicht lesen und schreiben. Sieben von zehn haben damit Alphabetisierungsbedarf. Vor drei Jahren sind es etwas weniger als die Hälfte gewesen. Wobei hier zwei Dinge vermengt werden – die Zahl jener, die nur der lateinischen Schrift nicht mächtig sind, und derer, die auch in ihrer Muttersprache nicht lesen und schreiben können. Im Vorjahr waren 52 Prozent Zweitschriftlernende. 48 Prozent brauchten eine primäre Alphabetisierung – und ihr Anteil wächst laut ÖIF.
Man hilft sich mit Bildern
Dass das Erlernen der Schrift Geduld braucht, kann man im Seminarraum beobachten. Werner Alth beugt sich über den Übungszettel eines jungen Flüchtlings und erklärt noch einmal die Schreibung des A. Im ersten Schritt gilt es, den Stift von links unten schräg nach oben zu führen, im zweiten Schritt von oben nach rechts unten. Und dann braucht es dazwischen noch einen Verbindungsstrich. „Schön ausbessern und bitte noch einmal machen“, sagt Alth.
Dann spaziert er zum Tisch von Aljumda Tabarak. Die 17-Jährige hat in Syrien die Schule besucht und scheint etwas weiter fortgeschritten zu sein. Im vor ihr liegenden Buch versucht sie den Bildern auf Seite 83 die richtigen Wörter zuzuordnen: Ananas, Apfel, Ampel. Nur bei der Zeichnung einer blau-grünen Kugel weiß Tabarak nicht weiter: „Und das?“, fragt sie. Alth antwortet: „Die Erde, die Welt, alle Länder.“
Im Kurs hilft man sich oft mit Bildern. Eigentlich hauptsächlich. An der Wand hängen Fotos von Gegenständen, daneben befinden sich Begriffe wie „die Gabel“, „der Löffel“, „das Sofa“. Der Kursleiter spricht kein Arabisch, Farsi oder Dari. Er redet Deutsch oder mit Händen und Füßen. „Es ist eine große Herausforderung“, sagt Alth.
„Sie müssen das Lernen lernen“
Die Flüchtlinge kommen mit ganz unterschiedlichen Vorkenntnissen hier an. So erzählt es Martina Budai, die Zuständige für die Sprachstandsfeststellung. Die einen haben in der Heimat die Schule besucht und in Österreich bereits etwas Deutsch gelernt, die anderen verstehen kaum ein Wort und haben Schwierigkeiten, den Stift richtig zu halten oder Schwungübungen und Buchstaben korrekt auf die Zeilen im Heft zu setzen.
„Manche haben sich 50 Jahre lang nach Bildern orientiert. Sie müssen sich in Büchern erst einmal zurechtfinden, öffnen sie oft von hinten. Sie müssen auch das Lernen lernen“, sagt Budai.
Die Sprachtrainer versuchen sich in diese Menschen hineinzuversetzen. Bei einer der vergangenen Trainerausbildungen, erzählt Budai, sei sie selbst mit der Brailleschrift konfrontiert worden. „Ich erkannte kein Wort. Wir waren alle völlig ahnungslos.“Genauso fremd wie ihr die Blindenschrift ist, sei die lateinische Schrift auch einigen Kursteilnehmern. „Deshalb sind diese Kurse nichts, wo man in wenigen Wochen durchrauscht.“
Das zeigt sich laut Integrationsfonds auch in der Statistik. Das Deutschlernen geht langsamer voran. Die Kursziele werden seltener erreicht. Deshalb wurde der Stundenumfang der Alphabetisierungskurse im Vorjahr ausgeweitet. Und soll noch einmal erhöht werden.
Die zehn Teilnehmer des Kurses von Werner Alth werden in dem Seminarraum also noch viele Vormittage verbringen. 28 Wochen wird ihr Kurs noch dauern.