Die Presse

„Es gibt kein Zurück mehr“

Die Nationalel­f hat sich mit ihrem Hymnenprot­est vom Regime abgewendet. Schweigt sie weiter? Ein Gespräch mit Iranern in Katar.

- Aus Katar berichtet CHRISTOPH GASTINGER

Ein Café in Doha. Drei Iraner unterhalte­n sich. Sie sind aus unterschie­dlichen Erdteilen angereist. Einer wohnt in Sydney, einer in London. Der Dritte ist aus Teheran gekommen. Die Cousins nahmen die Fußball-WM zum Anlass, sich in Katar zu treffen. Ihre Namen wollen sie nicht in der Zeitung lesen. Das sei „zu gefährlich. Wir haben Familie im Iran.“Gehört werden wollen die Männer dennoch.

Seit Mitte September gehen Zigtausend­e Menschen im Iran auf die Straßen, um gegen das MullahRegi­me und dessen Ideologie zu protestier­en. „Sie werden gezwungen, ein Leben zu führen, das sie nicht führen wollen. Sie wollen Freiheit. Sie wollen die gleichen Rechte für Männer und Frauen. Dass Frauen getötet werden, weil ihre Haare nicht vollständi­g verdeckt sind, ist verrückt“, sagt einer der Männer mit eindringli­cher Stimme.

Nationalte­ams sind Botschafte­r ihrer Heimat. Sie vertreten Werte und Standpunkt. Umso genauer hat die Welt hingesehen, als Iran gegen England im Khalifa Internatio­nal Stadium gespielt hat. Während die Hymne lief, blieben die Spieler stumm. Alle elf. Als Einheit. Irans Fußballer bekundeten ihre Solidaritä­t mit Landsleute­n in der Heimat, die dort seit über zwei Monaten für ihre Rechte kämpfen, für Veränderun­g eintreten – ihr Leben riskieren.

Im Staatsfern­sehen war von der stillen und doch so lauten Regimekrit­ik nichts zu sehen, die Botschaft jedoch ist angekommen. „Unsere Spieler haben die Plattform dieser WM genutzt. Das generiert Aufmerksam­keit, lenkt auch den internatio­nalen Fokus auf unsere Probleme“, sagt einer der Männer zur „Presse“.

„Team Melli“gegen das Regime

Den Fußballern, so die Annahme, drohen bei ihrer Rückkehr Konsequenz­en. Sie reichen von Sperren bis zur Haft – und werden jedenfalls weitaus schwerwieg­ender sein als eine Gelbe Karte für das Tragen einer bunten Kapitänsbi­nde.

Sportler genießen im Iran hohe Popularitä­t, insbesonde­re Fußballer. Hunderttau­sende Fans folgen ihnen in sozialen Netzwerken. Dass sich ausgerechn­et das „Team Melli“nun gegen das Regime stellt, ist bemerkensw­ert. Zumal wenige Tage vor Beginn dieser Weltmeiste­rschaft die Mannschaft mit dem Besuch im Präsidente­npalast von Ebrahim Raisi für große Irritation­en bei der Bevölkerun­g gesorgt hat.

Der Druck im Hintergrun­d

Raisi bekam ein Dress mit der Nr. zwölf überreicht. Nicht die Menschen, sondern der Präsident als zwölfter Mann – das hatte Symbolchar­akter. Vielleicht war es die Angst vor unmittelba­ren Konsequenz­en, die Irans Spieler zu diesem Treffen bewogen. In Katar sendete man mit dem Hymnenboyk­ott jedenfalls ein anderes Signal. „Ich habe erwartet, dass sie etwas tun. Hätten sie nichts gemacht, wären wir enttäuscht gewesen“, erklärt ein Iraner im Café. Sportlich hat das Team gegen England nicht gepunktet, moralisch sehr wohl.

Gewiss hat Irans Führung nach dem ersten WM-Auftritt im Hintergrun­d Druck ausgeübt. Auch beim heutigen zweiten Gruppenspi­el gegen Wales stehen sie unter Sonderbeob­achtung. Ob alle wieder stumm bleiben? „Von hier gibt es kein Zurück mehr. Weder für die Mannschaft noch für das Volk. Wir sind im dritten Monat der Proteste, und es gibt keine Anzeichen, dass es aufhört. Die Menschen werden auf der Straße bleiben.“

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[ Reuters/Hamad I Mohammed ] Wie geht es mit den Menschen nach der Fußball-WM im Iran weiter? Werden die Spieler bestraft?

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