„Es gibt kein Zurück mehr“
Die Nationalelf hat sich mit ihrem Hymnenprotest vom Regime abgewendet. Schweigt sie weiter? Ein Gespräch mit Iranern in Katar.
Ein Café in Doha. Drei Iraner unterhalten sich. Sie sind aus unterschiedlichen Erdteilen angereist. Einer wohnt in Sydney, einer in London. Der Dritte ist aus Teheran gekommen. Die Cousins nahmen die Fußball-WM zum Anlass, sich in Katar zu treffen. Ihre Namen wollen sie nicht in der Zeitung lesen. Das sei „zu gefährlich. Wir haben Familie im Iran.“Gehört werden wollen die Männer dennoch.
Seit Mitte September gehen Zigtausende Menschen im Iran auf die Straßen, um gegen das MullahRegime und dessen Ideologie zu protestieren. „Sie werden gezwungen, ein Leben zu führen, das sie nicht führen wollen. Sie wollen Freiheit. Sie wollen die gleichen Rechte für Männer und Frauen. Dass Frauen getötet werden, weil ihre Haare nicht vollständig verdeckt sind, ist verrückt“, sagt einer der Männer mit eindringlicher Stimme.
Nationalteams sind Botschafter ihrer Heimat. Sie vertreten Werte und Standpunkt. Umso genauer hat die Welt hingesehen, als Iran gegen England im Khalifa International Stadium gespielt hat. Während die Hymne lief, blieben die Spieler stumm. Alle elf. Als Einheit. Irans Fußballer bekundeten ihre Solidarität mit Landsleuten in der Heimat, die dort seit über zwei Monaten für ihre Rechte kämpfen, für Veränderung eintreten – ihr Leben riskieren.
Im Staatsfernsehen war von der stillen und doch so lauten Regimekritik nichts zu sehen, die Botschaft jedoch ist angekommen. „Unsere Spieler haben die Plattform dieser WM genutzt. Das generiert Aufmerksamkeit, lenkt auch den internationalen Fokus auf unsere Probleme“, sagt einer der Männer zur „Presse“.
„Team Melli“gegen das Regime
Den Fußballern, so die Annahme, drohen bei ihrer Rückkehr Konsequenzen. Sie reichen von Sperren bis zur Haft – und werden jedenfalls weitaus schwerwiegender sein als eine Gelbe Karte für das Tragen einer bunten Kapitänsbinde.
Sportler genießen im Iran hohe Popularität, insbesondere Fußballer. Hunderttausende Fans folgen ihnen in sozialen Netzwerken. Dass sich ausgerechnet das „Team Melli“nun gegen das Regime stellt, ist bemerkenswert. Zumal wenige Tage vor Beginn dieser Weltmeisterschaft die Mannschaft mit dem Besuch im Präsidentenpalast von Ebrahim Raisi für große Irritationen bei der Bevölkerung gesorgt hat.
Der Druck im Hintergrund
Raisi bekam ein Dress mit der Nr. zwölf überreicht. Nicht die Menschen, sondern der Präsident als zwölfter Mann – das hatte Symbolcharakter. Vielleicht war es die Angst vor unmittelbaren Konsequenzen, die Irans Spieler zu diesem Treffen bewogen. In Katar sendete man mit dem Hymnenboykott jedenfalls ein anderes Signal. „Ich habe erwartet, dass sie etwas tun. Hätten sie nichts gemacht, wären wir enttäuscht gewesen“, erklärt ein Iraner im Café. Sportlich hat das Team gegen England nicht gepunktet, moralisch sehr wohl.
Gewiss hat Irans Führung nach dem ersten WM-Auftritt im Hintergrund Druck ausgeübt. Auch beim heutigen zweiten Gruppenspiel gegen Wales stehen sie unter Sonderbeobachtung. Ob alle wieder stumm bleiben? „Von hier gibt es kein Zurück mehr. Weder für die Mannschaft noch für das Volk. Wir sind im dritten Monat der Proteste, und es gibt keine Anzeichen, dass es aufhört. Die Menschen werden auf der Straße bleiben.“