Das Vermächtnis des Generals
Die WM ist das letzte Kapitel in der 50-jährigen Fußballkarriere von Louis van Gaal. Dass er nun ausgerechnet in Katar still und leise abtreten wird, ist ausgeschlossen.
Es ist nicht so, als wäre Louis van Gaal bisher sonderlich zurückhaltend gewesen in seiner Wortwahl. Nun, am Ende seiner mittlerweile 50-jährigen Fußballkarriere, ist aber mehr denn je Klartext angesagt. Der Fifa richtete er etwa ein öffentliches „Bullshit“dafür aus, dass der Weltverband diese WM in Katar spielen lässt. „Es ist lächerlich, dass die WM dort ist. Die Fifa sagt, sie wollen dort den Fußball entwickeln. Das ist Bullshit. Es geht ums Geld, um kommerzielle Interessen.“
Doch gerade Katar ist nun van Gaals letzte Mission. Zum dritten Mal hat der 71-Jährige die niederländische Nationalmannschaft übernommen, weil, wie er erklärte, kein anderer Trainer mit denselben Qualitäten verfügbar gewesen sei. Dass er, natürlich der älteste Teamchef bei dieser WM, gar nicht hier sein sollte, ist eigentlich allen klar. Fünf Jahre lang war van Gaal schon in Fußball-Pension gewesen, ehe er im Vorjahr wieder zur Elftal stieß. Vor allem aber: Er leidet an Prostatakrebs, einer aggressiven Form, wie er erzählte. 25 Mal ist er bestrahlt worden, in der Nacht durch die Hintertür des Krankenhauses ein und aus gegangen, im Training hat er manchmal unbemerkt einen Katheter getragen. Denn seine Spieler haben lang nichts davon gewusst.
Was dieser nun plötzlich so hager erscheinende Mann noch bewirken kann mit seiner guten, aber nicht überragenden niederländischen Mannschaft, muss sich erst zeigen, der Auftakt war souverän, heute wartet Ecuador (17 Uhr, Servus TV). Sein wahres Vermächtnis hat van Gaal der Fußballwelt aber längst hinterlassen. Es sind weniger die Titel, die es freilich auch zu bejubeln gab, sondern es sind vor allem die Karrieren, die er auf den Weg gebracht hat.
Von Freunden und Feinden
Noch als Profi arbeitete van Gaal in den 1970er- und 1980er-Jahren vormittags als Sportlehrer an einer Berufsschule in Amsterdam. Die Zeit hat ihn geprägt, denn selbst wenn er nicht überall Erfolg hatte, mit ihm auch nicht überall Harmonie herrschte, eines hat van Gaal bei all seinen Trainerstationen getan: beharrlich auf die Jugend gesetzt.
Stars, die bei ihren Vereinen einst unter dem Niederländer debütierten, spielen nicht nur bei der WM in Katar (etwa England-Torschütze Marcus Rashford), sie haben den Sport in den vergangenen Jahrzehnten geprägt. Xavi und Andrés Iniesta hatten ihre ersten Einsatzminuten in Barcelona unter van Gaal. Bei Ajax Amsterdam ließ er Clarence Seedorf, Edgar Davids (heute sein CoTrainer in der Elftal) und Patrick Kluivert debütieren, er entdeckte Jari Litmanen, förderte die de-Boer-Brüder und war mit seinem Ballbesitz- und Offensivfußball das Maß der Dinge in ganz Europa. Als Ajax 1995 im Wiener Ernst-Happel-Stadion die Champions League gewann, waren in der Startelf nur zwei Spieler älter als 25 Jahre.
Kluivert beschrieb van Gaal einmal so: „Mit verdienten, erfahrenen Spielern hat er manchmal Probleme.“Aber: „Er leistet unglaubliche Arbeit mit den Jungen.“Xavi, für van Gaal der talentierteste Spieler, den er je gecoacht hat, meinte: „Er war sehr direkt. An einem Tag hat er dich vor der ganzen Gruppe gedemütigt, und am nächsten Tag erzählte er mir, ich wäre Zidane. So war er, und mit der Zeit hatte es einen positiven Effekt.“
Ebenfalls Debütant unter van Gaal war der damals 17-jährige Bayern-Linksverteidiger David Alaba. Doch in München wurde die besserwisserische Seite des „Generals“und sein Verlangen nach absoluter Kontrolle am deutlichsten. Uli Hoeneß unterstellte ihm „Beratungsresistenz“. Immer wieder in seiner Laufbahn kehrte van Gaal zu früheren Klubs zurück, zu Ajax, Barcelona oder AZ Alkmaar (umjubelter Meistertitel 2009). Nur bei Bayern München schloss er das aus. „Solang Uli Hoeneß im Klub ist, würde ich dort nicht arbeiten.“Selbst seine Feinde sind allererster Güte: Neben den Bayern-Bossen gehören dazu Johan Cruyff (van Gaal wähnte sich stets zu Unrecht im Schatten der Überfigur) oder Zlatan Ibrahimović (bezeichnete van Gaal als „Diktator“).
Etwas verbrannte Erde bleibt also ebenfalls von van Gaal. Am Ende dieser WM vielleicht auch noch ein Coup als Bondscoach. Ganz gewiss die Tatsache, dass ihm viele Stars ihre Karrieren verdanken. Und, nicht zu unterschätzen, seine fast zwanghafte Ehrlichkeit. Denn van Gaals „Bullshit“in Richtung Fifa ist das bisher unmissverständlichste Statement unter allen WM-Protagonisten.