„Ich will intellektuelles Publikum“
Marina Davydova löst im Oktober 2023 Bettina Hering als Leiterin des Schauspiels ab. Die russische Theaterexpertin erklärt der „Presse“, was sie vorhat.
Ab Oktober 2023 gibt es eine neue Leiterin des Bereichs Schauspiel bei den Salzburger Festspielen: Für drei Jahre soll Marina Davydova diese Funktion übernehmen. Die Theatermacherin, 1966 in Baku geboren, lebte in Russland und musste im März flüchten. Sie hatte sich kritisch zum Krieg gegen die Ukraine geäußert. Derzeit wohnt sie in Berlin. Mit ihrem Festival „Neues Europäisches Theater“hatte sie die Szene in Moskau geprägt. Österreich ist ihr vertraut: 2016 betreute sie als Kuratorin das Schauspiel der Wiener Festwochen. Ihr damaliger Chef war Markus Hinterhäuser, der im selben Jahr Intendant in Salzburg wurde. Von der designierten Theaterfrau in seinem Team erwartet er kreative Impulse. Zugleich deutet er die Programmatik an: Der Schwerpunkt werde weiter auf deutschsprachigem Repertoire liegen, aber es soll „unter ihrer Leitung mit einer verstärkt internationalen Ausrichtung unserem hohen Besucheranteil aus insgesamt 76 Ländern Rechnung getragen werden.“Und was sagt Davydova selbst?
Die Presse: Was war der ausschlaggebende Grund für Sie, der für Salzburg sprach?
Marina Davydova: Als gelernte Theaterhistorikerin weiß ich, dass es eines der ersten Festivals dieser Art war. Das hat mich schon immer fasziniert. Einer der Gründer, Max Reinhardt, war doch ein Avantgardist. Dass diese Festspiele alle Sparten der darstellenden Künste umfassen, ist ein großer Vorteil. Diese Universalität ist auch ein Anliegen des zeitgenössischen Theaters. Es kann alle denkbaren Formen einschließen, die diese Künste zu bieten haben.
Die Gründerväter hatten nach dem Ersten Weltkrieg eine Vision für dieses Fest der Künste. Welche Vorstellungen von damals gelten noch? Was ist die Vision von heute?
Bei allem Respekt vor der Geschichte glaube ich nicht, dass man immer nur zurückschauen soll. Der Begriff Theater umfasst viel mehr, er ist offen für neue Formen und Ideen. Er gibt ihnen Raum, neue Räume. Man muss darin die Realität der Gegenwart verarbeiten. Das Theater lebt von der Aktualität und blickt in die Zukunft.
Mit der Coronapandemie hat sich der Eindruck verstärkt, dass sich die Bühnen in unserer multimedialen Gesellschaft in der Krise befinden. Stimmt das?
Ich sehe diese Krise fürs Schauspiel nicht. Im Gegenteil! Die überwundene Pandemie wird die Lust darauf bald verstärken. Im Lockdown war es für uns in Moskau zwar möglich, alles über das Internet zu bestellen, sogar Freunde dort zu treffen, das Leben in eine virtuelle Realität zu verlegen.
Das hat aber die Sehnsucht verstärkt, ihr zu entkommen, indem man zum Beispiel ins Theater geht. Dort findet man das echte Leben, mit physischer Präsenz. Seit Corona weiß man noch intensiver, wie gut das ist.
Wie holen Sie das junge Publikum ab?
Ich will weder explizit junge noch alte, weder russische noch deutsche Zuschauer gewinnen. Ich will ein intellektuelles Publikum erreichen. Es soll in den Dialog mit dem modernen Theater treten. Es soll sich bei uns bereitwillig zum Denken anregen lassen, auch wenn unsere komplexe Welt mehr Fragen aufwirft, als sie Antworten bieten kann.
Man zeigt hier in Salzburg vor allem deutsche, österreichische oder Schweizer Produktionen. Stört Sie das?
Nein, das macht mir keine Sorgen. Deutsches Theater dominiert derzeit in Europa. Sogar wenn die Festspiele nicht im deutschsprachigen Raum stattfinden würden, gäbe es diese Tendenz. Aber wir sind internationale Festspiele. Ich habe auf vielen Reisen viele Regionen kennengelernt. Polen zum Beispiel bietet aufregendes Theater.
Werden Sie auch selbst inszenieren? Und wen möchten Sie für Projekte gewinnen?
Selbst werde ich nicht inszenieren. Ich arbeite zurzeit an einem Stück für das Residenztheater in München und an einem weiteren Projekt, einer Performance. Ich hoffe, diese Weltpremiere wird nächstes Jahr in Wien gezeigt. Um genaue Wünsche über Kollegen zu äußern, ist es noch zu früh. Es gibt außergewöhnliche Künstler in Frankreich, Polen, Schweden. Ich bin mit einigen von ihnen bereits im Dialog.
Sie wurden in Russland bedroht, gingen zu Beginn des Kriegs gegen die Ukraine ins Exil. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Ich habe in Russland alles verloren. Viele Projekte, unter ihnen die Theaterzeitschrift, an der ich seit zwölf Jahren gearbeitet habe. Vor allem aber das internationale Festival NET, Neues Europäisches Theater, für das ich mich 23 Jahre lang engagiert habe. Doch trotz dieser bedrückenden Situation schaffe ich es, weiterzuarbeiten. Ich mache noch immer Theater. Also kann ich glücklich sein. In der Ukraine erleben die Menschen derzeit einen Albtraum. Meine Gedanken und meine Gefühle sind bei ihnen.