Wer bleibt, wer geht?
Aktuell gibt es zwei Erzählungen. Die eine lautet: Das Problem sind die vielen Asylwerber. Die andere widerspricht: Die meisten ziehen weiter. Die wahre Krise ist der Ukraine-Krieg. Was stimmt?
1 Wie viele Asylwerber kommen, und warum sind es gerade in Österreich so viele?
Die Zahl der Asylanträge ist hoch, sehr hoch. Mit Ende Oktober waren es heuer bisher 89.865 Anträge. Die meisten stellen Syrer, Afghanen, Iraker, Inder – gendern muss man hier nicht, es sind kaum Frauen. Nicht mitgezählt werden die Ukraine-Vertriebenen, da diese nicht um Asyl ansuchen müssen.
Neu ist bei den Asylwerbern die hohe Zahl der Inder, die – wie der Sprecher der Asylkoordination Lukas Gahleitner-Gertz anmerkt – auch im EU-Vergleich hoch sei. Generell nimmt Österreich im aktuellen Eurostat-Ranking bei der Zahl der Asylerstanträge im Verhältnis zur Bevölkerung den Spitzenplatz ein. Warum? Eine - wenn auch nicht die alleinige – Ursache könnten die intensiven Kontrollen sein. Diese wurden heuer – auch nach Hilferufen aus dem Burgenland – verschärft. Mehr Kontrollen führen wiederum zu mehr Anträgen. Denn, so der Migrationsforscher Rainer Münz: „Viele, die eigentlich durch Österreich nur durchziehen wollten – wie etwa die Inder –, stellen dann stattdessen einen Asylantrag.“Wobei ein anderer statistischer Effekt diesmal nicht so stark ins Gewicht fällt: Auch für Kinder von Asylberechtigten, die hier geboren werden, muss man einen Asylantrag stellen. In schwachen Jahren, so Münz, sei das durchaus ein relevanter Anteil, heuer angesichts der vielen Anträge natürlich nicht.
Prognostisch ist übrigens ab jetzt nach einem Hoch im Herbst mit einem Rückgang der Asylanträge zu rechnen. Im Winter ist die Flucht beschwerlicher. Steigen könnte jedoch indessen die Zahl der Ukrainerinnen (bisher meist Frauen) – abhängig von Energieknappheit in der Heimat und Kriegsverlauf.
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Die Zahl kann man nur indirekt eruieren. Und zwar aus der Zahl der „sonstigen Entscheidungen“, wie das in der Statistik heißt. Davon gab es bis Ende Oktober 28.186. Wie die Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage der Neos ergeben hat, betrifft der bei Weitem überwiegende Anteil dieser sonstigen Entscheidungen die Einstellung des Asylverfahrens. Das Innenministerium (BMI) selbst weist diese nicht extra aus.
Der Hauptgrund für Einstellungen ist, dass Asylwerber „verschwinden“, also nicht zumVerfahr en kommen. Und Experten halten es für am wahrscheinlichsten, dass die meisten davon weiterreisen. Dafür sprechen einerseits Beobachtungen auf Bahnhöfen, der Austausch mit NGOs in Zielländern und der Fakt, dass es auch für „aussichtslose Fälle“, die in Österreich bleiben wollen, finanziell besser wäre, ein Verfahren anzustreben, als gleich abzutauchen. Andererseits teilte auch das BMI selbst per Aussendung mit, das s sich 27.597 Personen (da sistauf„ Presse“-Nachfrage beim BMI nämlich die Zahl der Einstellungen) „dem Verfahren entzogen, damit auf ihren Schu tz ver zichtet und Österreich selbstständig wieder verlassen haben“.
Die Asylkoordination hat zudem eine monatliche Statistik der Verfahrenseinstellungen erstellt. Diese lässt eine Dynamik erkennen: Im Jänne rendeten37Prozentaller Asylanträge mit Einstellung, im Oktober 64 Prozent. Wobei Gahleitner-Gertz von einer höheren Dunkelziffer ausgeht. Denn die Statistik hinkt hinterher: Wer jetzt weiterreist, dessen Verfahren wird mit Zeitverzögerung eingestellt. Auch mit Blick auf die Summe der Verfahrenserledigungen und die Zahl der Asylwerber in der Grundversorgung (siehe nächste Frage) kalkuliert er, dass de facto 40.000 bis 50.000 weitergezogen sind.