Die Faszination des Fallrückziehers
Richarlison hat der WM ein Highlight beschert. Von Risiko, Ruhm und Ursprung einer Fußballkunstform.
Der Fallrückzieher verlangt Können, vor allem aber auch Mut.
Sie sind die Königsdisziplin unter den Toren: die Fallrückzieher. Ein besonders schönes Exemplar hat der Brasilianer Richarlison beim 2:0-Sieg über Serbien vorgeturnt. Anders lässt sich dieser Zauber kaum beschreiben, denn dieser Kunstform liegt eine regelrechte Symbiose der Beherrschung von Körper und Ball zugrunde: Richarlison legt sich die Flanke (nicht minder stilvoll per Außenrist von Vin´ıcius Jú nior) mit dem Rücken zum Tor selbst mit dem linken Fuß auf Brusthöhe auf, vollzieht im Sprung eine halbe Drehung um die eigene Achse und jagt den Ball volley mit rechts ins Netz. Womöglich ist der Treffer dieser WM-Endrunde schon in der ersten Runde der Gruppenphase gefallen.
Für einen Fallrückzieher braucht es nicht nur das Können, sondern vor allem auch den Mut. Denn gelingt er nicht (und das ist meistens der Fall), bleibt vom Scheitern ein patschert wirkender Plumps auf den Hosenboden und die Frage, ob das eigene Ego dem aussichtsreicheren normalen Abschluss im Weg gestanden ist.
Umso größer ist die Faszination, wenn das Wagnis aufgeht. Und der Mythos wächst weiter, weil es zumeist nicht die filigranen Edeltechniker sind, die das Kunststück vollbringen, sondern eher wuchtige Mittelstürmer. Tottenham-Profi Richarlison etwa hat 1,84 m und 83 kg Körpermasse in diesen so harmonisch wirkenden Bewegungsablauf gepackt. Unvergessen bleibt Zlatan Ibrahimović (1,95 m, 95 kg), der 2012 für Schweden gegen England in ähnlicher Manier fast von der Mittelauflage ins Tor getroffen hat.
Das „jogo bonito“, das schöne Spiel, der Brasilianer firmiert im Fußball als eigene Stilrichtung, den Fallrückzieher aber haben sie nicht erfunden. Der berühmte Fußball-Chronist Eduardo Galeano schreibt diese Errungenschaft dem Chilenen Ramó n Unzaga zu. Ein Auswanderer aus dem Baskenland, der mit dem Trick bei den SüdamerikaMeisterschaften
1916 und 1920 begeistert hat. Als Verteidiger jedoch als defensiver Befreiungsschlag (Roberto Carlos tat es ihm gleich), denn Tor ist von ihm kein solches überliefert. „Mit dem ganzen Körper durch die Luft, den Rücken zum Boden, schossen die Beine mit einem plötzlichen Überschlag den Ball nach hinten“, schrieb Galeano damals. Offensiv in Erscheinung trat der Fallrückzieher während einer Europa-Tour des Santiagoer Traditionsklubs Colo-Colo, als der Chilene David Arellano 1927 gegen Spanien auf diese Art den ersten bekannten Treffer erzielt.
Seither heißt der Fallrückzieher in weiten Teilen Südamerikas „la chilena“– nicht aber in Peru. Dort wollen schon Ende des 19. Jahrhunderts Fußballer in der Region Callao den Trick vollführt haben, weshalb er dort „la chalaca“genannt wird. Die stolzen Brasilianer machen freilich keinem ihrer Nachbarn dieses Zugeständnis. Richarlison wird also in seiner Heimat für seine „bicicleta“, quasi den Fahrradpedaltritt, gefeiert. Zu Recht.