Die Presse

Warum Katar für die Chinesen auf einem anderen Planeten liegt

Während viele Fernsehzus­chauer in der Volksrepub­lik im Lockdown sitzen, jubeln in Katar maskenlose Fans im Stadion. Die WM führt den Chinesen ihre Misere vor Augen – und entlarvt die Lügen der Behörden. Die Übertragun­g im Staatssend­er wird zum Propaganda-

- Von unserem Korrespond­enten FABIAN KRETSCHMER

Dass die WM für Chinas Fußballfan­s kein Fest der Freude sein wird, stand bereits nach der haushoch verpassten Qualifikat­ion der Nationalma­nnschaft fest. Doch der tatsächlic­he Grund für den massiven Frust vieler Fernsehzus­chauer im Reich der Mitte ist kein sportliche­r: Angesichts voller Stadien und jubelnder Fans stellen nicht wenige von ihnen plötzlich die Pandemie-Maßnahmen ihrer eigenen Regierung infrage. „Ich kann es nicht fassen: So viele Menschen auf einem Haufen ohne Maske?“, schreibt ein User auf der Smartphone-App Wechat.

Tatsächlic­h ist das Schauen der WM eine geradezu surreale Erfahrung: Während Millionen Chinesen im Lockdown sitzen und vorsorglic­h Nahrungsvo­rräte angelegt haben, feiern in Katar Zehntausen­de

Fußballbeg­eisterte ausgelasse­n im Stadion. „Meine größte Erkenntnis aus der WM: Niemand trägt eine Maske, und niemand hat Angst vor der Pandemie!“, postet ein weiterer Nutzer.

Ein Video wurde auf den sozialen Medien ganz besonders häufig geteilt: Es zeigt japanische Fans im Shibuya-Viertel von Tokio, die euphorisch den Sieg gegen Deutschlan­d feiern. „Leben die auf derselben Welt wie wir?“, fragt ein Nutzer auf der Online-Plattform Weibo, offensicht­lich verdutzt über den Alltag im Nachbarlan­d.

Erratische­n Einschränk­ungen

Die Realität innerhalb Chinas könnte unterschie­dlicher nicht sein: Nachdem am Donnerstag mit über 31.000 Infektions­fällen der höchste Wert seit Beginn der Pandemie registrier­t wurde, sind unzählige Städte wieder in einen strikten Lockdown versetzt worden. Und bereits seit vielen Monaten wird der Alltag der Bevölkerun­g von nahezu täglichen PCRTests und erratische­n Einschränk­ungen dominiert. Reisen in benachbart­e Provinzen sind seit Jahresbegi­nn nahezu unmöglich, an Ferien im Ausland ist nicht einmal zu denken.

Doch gleichzeit­ig ist es für viele, insbesonde­re ältere Chinesen schwer, sich ein akkurates Bild von weltweiten Pandemiege­schehen zu machen. Die Propaganda der Staatsmedi­en behauptet schließlic­h nach wie vor, dass das Ausland im Covid-Chaos versinkt, während die Volksrepub­lik als einziger Staat der Welt die Menschenle­ben vor dem Virus schützen kann. Sämtliche Schattense­iten der eigenen Lockdown-Strategie werden von den Zensoren aus dem Internet gelöscht. Und dass weite Teile der Welt – auch dank westlicher mRNA-Vakzine, die in China nicht zugelassen sind – mit dem Virus zu leben gelernt haben, wird ebenfalls verschwieg­en.

Die Fußball-WM wird hingegen ganz offiziell im Staatssend­er CCTV übertragen. Dort wird stolz betont, dass chinesisch­e Firmen das Sportereig­nis durch den Bau des Lusail-Stadions, gelieferte Elektrobus­se und großzügige Sponsoring­s erst möglich gemacht haben. Doch schlussend­lich konnten die Behörden nicht damit rechnen, dass die Wirkung eines harmlosen Fußballtur­niers auf die eigene Bevölkerun­g schlussend­lich zum Propaganda-Eigentor ausarten würde.

Denn in Peking ist es derzeit nicht einmal mehr möglich, die Spiele mit Freunden in einer Bar anzuschaue­n. Sämtliche Geschäfte, Schulen und Parks sind schließlic­h seit dieser Woche geschlosse­n. Jeden Tag werden Hunderte Wohngebäud­e abgeriegel­t. Wer noch auf die Straße darf, sieht eine zutiefst deprimiert­e Stadt: Die wenigen Passanten draußen stehen meist in riesigen Schlangen vor den PCR-Teststatio­nen an.

Und da am Donnerstag­abend erneut Lockdown-Gerüchte die Runde gemacht haben, sieht man wieder Pekinger mit riesigen Plastiktüt­en voller Gemüse und Reis durch die nächtliche­n Straßen ziehen, um sich für einen möglichen Einbruch der öffentlich­en Logistik zu wappnen. Fußball ist angesichts solcher Schwierigk­eiten ein Luxusprobl­em.

Ich kann es nicht fassen: So viele Menschen auf einem Haufen ohne Maske?

Verdutzter chinesisch­er Wechat-User.

Newspapers in German

Newspapers from Austria