Enzensberger, der große Umdenker
Er begleitete Revolutionäre und bedichtete das Titanic-Schicksal linker Utopien: Zum Tod des Parade-Intellektuellen der deutschen 68er.
Er schmeiße nicht gern mit Bekenntnissen um sich, sagte Enzensberger einmal. „Bekenntnissen ziehe ich Argumente vor. Zweifel sind mir lieber als Sentiments. Widerspruchsfreie Weltbilder brauche ich nicht. Im Zweifelsfall entscheidet die Wirklichkeit.“Wie gern würde man solche Sätze öfter hören oder lesen in Zeiten, in denen das eigene Weltverhältnis in ein Schlagwort passen muss und schlichte Bekenntnisse „für“oder „gegen“so wichtig werden wie früher das rote oder schwarze Parteibüchel. Hans Magnus Enzensberger, der mit 93 Jahren verstorbene einstige 68er-Parade-Intellektuelle Deutschlands, stellte dagegen sein „Ich gehöre nicht zu euch und nicht zu uns“.
Unzuverlässig fanden ihn deshalb viele. Weil er, der mit seinen Gedichten, Essays sowie der Zeitschrift „Kursbuch“von der Studentenbewegung als intellektuelle Leitfigur gesehen wurde, sich nicht eindeutig solidarisierte; weil er zwar immer wieder bei neuen Bewegungen zur Stelle war, dabei aber stets kritische Distanz wahrte – etwa zur Außerparlamentarischen Oppositionsund Studentenbewegung (APO).
Der 1929 in Bayern geborene Enzensberger, Kind der Flakhelfer-Generation, war gewissermaßen eine deutsche Ausformung der „Angry Young Men“, er nahm in seiner Lyrik, die Sprachspiele und politische Anklagen verband, vieles von ihrer Rebellion vorweg. „Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne: sie sind genauer. Roll die Seekarten auf, eh es zu spät ist. Sei wachsam, sing nicht. Der Tag kommt, wo sie wieder Listen ans Tor schlagen und malen den Neinsagern auf die Brust Zinken . . .“, heißt es etwa im berühmten Gedicht „Ins Lesebuch für die Oberstufe“(1957), und am Ende: „Wut und Geduld sind nötig, in die Lungen der Macht zu blasen den feinen tödlichen Staub . . .“
Der kurze Sommer der Anarchie
Das war zehn Jahre vor den 68ern. Zehn Jahre danach – und unter dem Eindruck eines Jahrs in Kuba – veröffentlichte Enzensberger das Versepos „Der Untergang der Titanic“. Das sinkende Schiff wird hier Metapher für Untergänge aller Art, des Fortschrittsdenkens, linker Utopien, aber auch (damit verbunden) für Untergänge in der Psyche des Autors. Im Roman „Der kurze Sommer der Anarchie“verabschiedete sich Enzensberger
ebenfalls von sozialistischen Träumen. Die Liebe zu den französischen Aufklärern, vor allem Diderot, blieb dem Skeptiker. Wut und Resignation lagen bei ihm oft im Widerstreit; doch in der Resignation zu verharren verboten ihm wohl allein schon sein Temperament und seine geistige Agilität.
Wie Gedichte oft Denkstationen markierten, so auch Essays, seine zweitwichtigste Ausdrucksform. Er schrieb sie mit lässiger Eleganz über alles Mögliche, bis hin zur Mathematik, vor allem aber begleitete er damit jahrzehntelang die BRD-Politik. Stark rezipiert wurden auch seine Texte über Konsumkultur und mediale „Bewusstseinsindustrie“. Enzensberger hegte ein tiefes, wohl historisch wie charakterlich erklärbares Misstrauen gegen das Kollektiv, überhaupt gegen jede Art von Homogenisierung (was zum Teil auch seine Freude am eigensinnigen Nichtzustimmen erklärt). Das äußert sich auch im 1987 erschienenen Essay „Ach, Europa“, in dem er vor den Folgen des fehlenden
Mitspracherechts der EU-Bürger am „Brüsseler Projekt“gewarnt hat. Hier liest sich einiges heute aktueller als damals.
Geschätzt und kritisiert wurde an Enzensberger sein Gespür für Zeittendenzen („Er hat die Nase im Wind“, formulierte es der Philosoph Jürgen Habermas einmal ambivalent), das gab seinen Texten oft seismografische Qualitäten. Nach der Wende allerdings wurde Enzensberger immer weniger gehört, schien mit seinem Kulturkonservativismus vielen aus der Zeit gefallen. Sein Tod könnte Anlass sein, ihn wiederzulesen – etwa mit seinem Erzähler auf die Titanic zurückzukehren, wo alle bis zuletzt noch turnen oder spaßhalber Rettungsringe aufschlitzen. Enzensbergers Erzähler am Ende: „Alles, heule ich, wie gehabt, alles schlingert, alles unter Kontrolle, alles läuft, die Personen vermutlich ertrunken im schrägen Regen, schade, macht nichts, zum Heulen, auch gut, undeutlich, schwer zu sagen, warum, heule und schwimme ich weiter.“