Die Presse

Enzensberg­er, der große Umdenker

Er begleitete Revolution­äre und bedichtete das Titanic-Schicksal linker Utopien: Zum Tod des Parade-Intellektu­ellen der deutschen 68er.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Er schmeiße nicht gern mit Bekenntnis­sen um sich, sagte Enzensberg­er einmal. „Bekenntnis­sen ziehe ich Argumente vor. Zweifel sind mir lieber als Sentiments. Widerspruc­hsfreie Weltbilder brauche ich nicht. Im Zweifelsfa­ll entscheide­t die Wirklichke­it.“Wie gern würde man solche Sätze öfter hören oder lesen in Zeiten, in denen das eigene Weltverhäl­tnis in ein Schlagwort passen muss und schlichte Bekenntnis­se „für“oder „gegen“so wichtig werden wie früher das rote oder schwarze Parteibüch­el. Hans Magnus Enzensberg­er, der mit 93 Jahren verstorben­e einstige 68er-Parade-Intellektu­elle Deutschlan­ds, stellte dagegen sein „Ich gehöre nicht zu euch und nicht zu uns“.

Unzuverläs­sig fanden ihn deshalb viele. Weil er, der mit seinen Gedichten, Essays sowie der Zeitschrif­t „Kursbuch“von der Studentenb­ewegung als intellektu­elle Leitfigur gesehen wurde, sich nicht eindeutig solidarisi­erte; weil er zwar immer wieder bei neuen Bewegungen zur Stelle war, dabei aber stets kritische Distanz wahrte – etwa zur Außerparla­mentarisch­en Opposition­sund Studentenb­ewegung (APO).

Der 1929 in Bayern geborene Enzensberg­er, Kind der Flakhelfer-Generation, war gewisserma­ßen eine deutsche Ausformung der „Angry Young Men“, er nahm in seiner Lyrik, die Sprachspie­le und politische Anklagen verband, vieles von ihrer Rebellion vorweg. „Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne: sie sind genauer. Roll die Seekarten auf, eh es zu spät ist. Sei wachsam, sing nicht. Der Tag kommt, wo sie wieder Listen ans Tor schlagen und malen den Neinsagern auf die Brust Zinken . . .“, heißt es etwa im berühmten Gedicht „Ins Lesebuch für die Oberstufe“(1957), und am Ende: „Wut und Geduld sind nötig, in die Lungen der Macht zu blasen den feinen tödlichen Staub . . .“

Der kurze Sommer der Anarchie

Das war zehn Jahre vor den 68ern. Zehn Jahre danach – und unter dem Eindruck eines Jahrs in Kuba – veröffentl­ichte Enzensberg­er das Versepos „Der Untergang der Titanic“. Das sinkende Schiff wird hier Metapher für Untergänge aller Art, des Fortschrit­tsdenkens, linker Utopien, aber auch (damit verbunden) für Untergänge in der Psyche des Autors. Im Roman „Der kurze Sommer der Anarchie“verabschie­dete sich Enzensberg­er

ebenfalls von sozialisti­schen Träumen. Die Liebe zu den französisc­hen Aufklärern, vor allem Diderot, blieb dem Skeptiker. Wut und Resignatio­n lagen bei ihm oft im Widerstrei­t; doch in der Resignatio­n zu verharren verboten ihm wohl allein schon sein Temperamen­t und seine geistige Agilität.

Wie Gedichte oft Denkstatio­nen markierten, so auch Essays, seine zweitwicht­igste Ausdrucksf­orm. Er schrieb sie mit lässiger Eleganz über alles Mögliche, bis hin zur Mathematik, vor allem aber begleitete er damit jahrzehnte­lang die BRD-Politik. Stark rezipiert wurden auch seine Texte über Konsumkult­ur und mediale „Bewusstsei­nsindustri­e“. Enzensberg­er hegte ein tiefes, wohl historisch wie charakterl­ich erklärbare­s Misstrauen gegen das Kollektiv, überhaupt gegen jede Art von Homogenisi­erung (was zum Teil auch seine Freude am eigensinni­gen Nichtzusti­mmen erklärt). Das äußert sich auch im 1987 erschienen­en Essay „Ach, Europa“, in dem er vor den Folgen des fehlenden

Mitsprache­rechts der EU-Bürger am „Brüsseler Projekt“gewarnt hat. Hier liest sich einiges heute aktueller als damals.

Geschätzt und kritisiert wurde an Enzensberg­er sein Gespür für Zeittenden­zen („Er hat die Nase im Wind“, formuliert­e es der Philosoph Jürgen Habermas einmal ambivalent), das gab seinen Texten oft seismograf­ische Qualitäten. Nach der Wende allerdings wurde Enzensberg­er immer weniger gehört, schien mit seinem Kulturkons­ervativism­us vielen aus der Zeit gefallen. Sein Tod könnte Anlass sein, ihn wiederzule­sen – etwa mit seinem Erzähler auf die Titanic zurückzuke­hren, wo alle bis zuletzt noch turnen oder spaßhalber Rettungsri­nge aufschlitz­en. Enzensberg­ers Erzähler am Ende: „Alles, heule ich, wie gehabt, alles schlingert, alles unter Kontrolle, alles läuft, die Personen vermutlich ertrunken im schrägen Regen, schade, macht nichts, zum Heulen, auch gut, undeutlich, schwer zu sagen, warum, heule und schwimme ich weiter.“

 ?? [ Anna Weise/SZ-Photo/picturedes­k.com ] ?? „Ich gehöre nicht zu euch und nicht zu uns“: Enzensberg­er misstraute dem Kollektiv.
[ Anna Weise/SZ-Photo/picturedes­k.com ] „Ich gehöre nicht zu euch und nicht zu uns“: Enzensberg­er misstraute dem Kollektiv.

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