Von Parvenus, Zuckerwürfeln und Zionisten
Es gibt immer noch Exotisches, Vergessenes und Skurriles in Wien zu entdecken.
Da haben wir’s: Vermeint man als „eingeborener“Wiener, (fast) alles über seine Heimatstadt zu wissen, so belehrt uns der Historiker Georg Hamann eines Besseren. Sechzig Geschichten liefert er uns in seinem neuesten Werk – eine spannender als die andere. Sein Spektrum reicht von den mittelalterlichen „Siechenhäusern“(vier an der Zahl, von mildtätigen Nonnen betrieben) über die erste Porzellanmanufaktur (neben dem Liechtenstein’schen Gartenpalais) bis zum Trattnerhof.
Der Name des kleinen Gässchens beim Graben erinnert an den Großunternehmer Johann Thomas Trattner während der Ära Maria Theresias. Diese verlieh dem Katholiken alle erdenklichen Privilegien, um die meistens evangelischen Drucker in Schach zu halten. Trattner machte was draus: Sein Konzern druckte Schul- und Betbücher, Zeitschriften, Kalender, Musiknoten, nebstbei natürlich Kanzleipapier aus seinen zwei Papierfabriken. Die Kupferstecherei und eine Buchhandlung ermöglichten ihm, den „Freisingerhof“am Graben samt weiteren Häusern daneben zu erwerben. So entstand sein fünfstöckiger Trattnerhof mit Geschäftslokalen im Erdgeschoß, Tanzsalons darüber und Mietwohnungen für noble Zahler. Nach heutigen Usancen wären wir empört: Trattner zahlte den Autoren keinerlei Tantiemen, war ein Weltmeister bei den Raubdrucken. Dass die feine Gesellschaft darob die Nase rümpfte, scherte den Parvenu nur mäßig.
Viele solcher Spuren gilt es wiederzuentdecken: Wer weiß heute noch, wo das größte Feuerwerksspektakel oder einer der spektakulärsten Gerichtsprozesse stattfand? Wo Herr Degen seine Flugmaschine vorführte, wo man den berühmten „Teufelsgeiger“hören oder wo man im Barock die Vorläufer heutiger Taxis finden konnte? In sechzig historischen Miniaturen, deren Geschichten selten in Touristenführern zu finden sind, zeichnet Hamann das Porträt dieser Stadt und ihrer Bewohner. Viele waren Zuzügler.
Als da wäre etwa der Erfinder des Zuckerwürfels 1843. Er leitete die böhmische Zuckerfabrik in Datschitz nahe der niederösterreichischen Grenze. Bis dahin wurde der wertvolle Zucker in großen steinharten Kegeln verkauft. Diese Zuckerhüte musste man daheim mit Beilen, Äxten oder Sägen zerkleinern. Als sich die Gattin des Herrn Jakob Christoph Rad dabei verletzte, erfand er eine handlichere Zuckerform für den Handel. Sein Denkmal vor dem Schloss von Datschitz hat er sich verdient.
Als aufstrebender Star in Franz Josephs Ära hatte der jüdische Architekt Oskar Marmorek – zunächst – einen Stein im Brett beim Kaiser. Sein „Themenpark“namens Alt Wien im Prater entzückte den Herrscher. Aus Ziegeln, Holz und bemalter Leinwand ließ Marmorek den mittelalterlichen Hohen Markt wiederauferstehen. Es wurde ein Publikumsmagnet. Und Marmorek hatte zahlreiche lukrative Aufträge. Der Rüdigerhof oder der Nestroyhof sind nur zwei Beispiele. Doch Marmorek engagierte sich auch anderweitig – weniger erfolgreich. Wie Theodor Herzl träumte er von einem Judenstaat im Nahen Osten, erkundete 1903 mit Experten die Halbinsel Sinai, musste jedoch erkennen, dass diese zu lebensfeindlich war – und ist.
Alles in allem: Eine flotte, vergnügliche historische Entdeckungsreise durch Wien, wie man es so nicht gekannt hat.