Die Presse

Wie die Linke in der Asyldebatt­e versagt

Migration ist das zentrale Thema der Zukunft. Es muss ehrlich diskutiert werden – doch das passiert nicht.

- VON CHRISTOPH LANDERER

„Alle große politische Aktion besteht im Ausspreche­n dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeist­erei besteht in dem Verschweig­en und bemänteln dessen, was ist.“Ferdinand Lassalle hat dem allgemeine­n deutschen Arbeiterve­rein, der Vorgängero­rganisatio­n der SPD, einen Anspruch mit auf den Weg gegeben, der sich in der praktische­n Politik nur selten vollständi­g einlösen lässt. Aber in keinem Bereich ist es linken Politikern und Publiziste­n zuletzt schwerer gefallen, Lassalle gerecht zu werden, als beim Bereich Migration und Asyl.

Die Versäumnis­se wirken zweifach: Sie nagen an der Glaubwürdi­gkeit linker Politik, und sie stärken ihre rechte Konkurrenz; und das auch dann, wenn diese selbst keine wirklichen Lösungen anzubieten hat.

Rückblende in den Mai 2015: Die große „Flüchtling­swelle“dieses Jahres hat noch nicht eingesetzt, doch die Mittelmeer­route produziert immer größere Opferzahle­n. In dieser Situation veröffentl­icht Caspar Einem einen Gastkommen­tar im „Standard“mit der Forderung, die EU solle „einen Fährverkeh­r zwischen Nordafrika und Europa einrichten, der die Flüchtling­e zu fairen Preisen über das Meer transporti­ert und in Erstaufnah­melager bringt.“In diesen Lagern würde eine Prüfung der Asylchance­n stattfinde­n, die zu einer anschließe­nden Verteilung auf die Mitgliedsl­änder führt. Fällt die Prüfung negativ aus, müssten „die als nicht chancenrei­ch eingeschät­zten Antragstel­ler mit der Fähre zurück nach Afrika gebracht werden“.

Der Text ist in vielem typisch für den damaligen Umgang mit dem Themenbere­ich Asyl und Migration im progressiv­en Lager. Keines der zentralen Probleme wird angesproch­en – auch nicht von einem ehemaligen Innenminis­ter. Die Erstaufnah­melager müssten Internieru­ngslager sein, um Rückführun­gen verlässlic­h zu ermögliche­n, für die Rückführun­gen selbst wären entspreche­nde Abkommen sowie deren praktische Umsetzbark­eit erforderli­ch, das „faire“Angebot wäre in keiner Weise treffsiche­r. Die Asyldebatt­e dieser Jahre ist im besten Fall akademisch, im schlechtes­ten naiv. Dass die Mehrzahl der abgelehnte­n Asylwerber auch in Österreich eben nicht in ihre Heimatländ­er zurückkehr­t, wissen Informiert­e; der „Deportatio­n Gap“– die Rate jener, die Österreich nach einer aufenthalt­sbeendigen­den Entscheidu­ng nicht auf nachvollzi­ehbare Weise verlassen – lag 2000 bis 2014 in jedem Jahr über 50%, manchmal bei knapp 70%. Fazit: Das Asylsystem beruht auf theoretisc­hen Annahmen, die sich in der Praxis nicht einlösen lassen; welche Probleme es hier im Detail gibt, sickert erst nach und nach bei den Wählern durch. Doch von den linken Parteien haben sie das nicht erfahren.

Als der damalige FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache Zahlen nennt, erntet er Empörung. Das Thema wird politisch nicht bespielt, nach einer Studie der Politologi­n Sieglinde Rosenberge­r besteht ein Konsens zur „Non-Politiciza­tion“, es wird also bewusst nicht auf das politische Tapet gebracht. Das mag verständli­ch sein im Sinn einer Vermeidung öffentlich­er Verunsiche­rung, löst aber kein Problem.

Ab Herbst 2015 wird schließlic­h für jeden ersichtlic­h, dass das System auch im größeren Rahmen nicht funktionie­rt. Die Dublin-Verordnung­en sind Makulatur, Grenzen werden willkürlic­h geöffnet und wieder geschlosse­n, Flüchtling­e und Migranten ohne behördlich­e Interventi­on in die Zielländer durchgewin­kt. Für manche bleibt das „Asyl-Shopping“auch weiterhin ein politisch ersehntes Ideal. Ingrid Felipe, grüne Spitzenkan­didatin des Jahres 2017, veröffentl­icht im Februar 2016 ihre Überlegung­en dazu: „Erstes Ziel muss das Schaffen legaler Wege nach Europa und dort in das Zielland der Flüchtling­e sein. Ein solidarisc­hes Europa zwingt Menschen nicht mittels Quote in bestimmte Länder, sondern es gilt die Reisefreih­eit.“Grüne und SPÖ sehen die Lösung des Problems in der „Bekämpfung der Fluchtursa­chen“– wie man diese bekämpft, wenn in einer großen Zahl der Fälle gar keine originäre Flucht vorliegt und die Migrations­bewegungen ein Gebiet betreffen, das sich von der Subsahara bis zum Hindukusch erstreckt, erklären sie nicht.

Warnungen verhallen

Auch Etikettens­chwindel wird betrieben. Von Beginn weg, teilweise bis heute, sprechen Medien wie Politiker pauschal von „Flüchtling­en“, „Geflüchtet­en“, „Schutzsuch­enden“. Doch „Flüchtling“ist nach der Genfer Flüchtling­skonventio­n, dem UNHCR und auch den nationalen Rechtsordn­ungen nur, wer über nachvollzi­ehbare Fluchtgrün­de verfügt, und diese Bilanz ist gemischt. Im Sommer 2015, noch vor Beginn der großen Welle, warnt selbst die Pressestel­le des UNHCR vor einer Vermengung der Kategorien. Die Warnung verhallt ungehört.

Migrations­fragen sind wesentlich­e Zukunftsth­emen, über die wir uns offen unterhalte­n müssen. Doch das kann nur gelingen, wenn dem Wähler der Eindruck vermittelt wird, dass alle Karten auf den Tisch kommen. Dass das keine leichte Aufgabe ist, sei zugestande­n, aber es gibt dazu keine Alternativ­e. Nur die Wahrheit befreit.

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