Wie die Linke in der Asyldebatte versagt
Migration ist das zentrale Thema der Zukunft. Es muss ehrlich diskutiert werden – doch das passiert nicht.
„Alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und bemänteln dessen, was ist.“Ferdinand Lassalle hat dem allgemeinen deutschen Arbeiterverein, der Vorgängerorganisation der SPD, einen Anspruch mit auf den Weg gegeben, der sich in der praktischen Politik nur selten vollständig einlösen lässt. Aber in keinem Bereich ist es linken Politikern und Publizisten zuletzt schwerer gefallen, Lassalle gerecht zu werden, als beim Bereich Migration und Asyl.
Die Versäumnisse wirken zweifach: Sie nagen an der Glaubwürdigkeit linker Politik, und sie stärken ihre rechte Konkurrenz; und das auch dann, wenn diese selbst keine wirklichen Lösungen anzubieten hat.
Rückblende in den Mai 2015: Die große „Flüchtlingswelle“dieses Jahres hat noch nicht eingesetzt, doch die Mittelmeerroute produziert immer größere Opferzahlen. In dieser Situation veröffentlicht Caspar Einem einen Gastkommentar im „Standard“mit der Forderung, die EU solle „einen Fährverkehr zwischen Nordafrika und Europa einrichten, der die Flüchtlinge zu fairen Preisen über das Meer transportiert und in Erstaufnahmelager bringt.“In diesen Lagern würde eine Prüfung der Asylchancen stattfinden, die zu einer anschließenden Verteilung auf die Mitgliedsländer führt. Fällt die Prüfung negativ aus, müssten „die als nicht chancenreich eingeschätzten Antragsteller mit der Fähre zurück nach Afrika gebracht werden“.
Der Text ist in vielem typisch für den damaligen Umgang mit dem Themenbereich Asyl und Migration im progressiven Lager. Keines der zentralen Probleme wird angesprochen – auch nicht von einem ehemaligen Innenminister. Die Erstaufnahmelager müssten Internierungslager sein, um Rückführungen verlässlich zu ermöglichen, für die Rückführungen selbst wären entsprechende Abkommen sowie deren praktische Umsetzbarkeit erforderlich, das „faire“Angebot wäre in keiner Weise treffsicher. Die Asyldebatte dieser Jahre ist im besten Fall akademisch, im schlechtesten naiv. Dass die Mehrzahl der abgelehnten Asylwerber auch in Österreich eben nicht in ihre Heimatländer zurückkehrt, wissen Informierte; der „Deportation Gap“– die Rate jener, die Österreich nach einer aufenthaltsbeendigenden Entscheidung nicht auf nachvollziehbare Weise verlassen – lag 2000 bis 2014 in jedem Jahr über 50%, manchmal bei knapp 70%. Fazit: Das Asylsystem beruht auf theoretischen Annahmen, die sich in der Praxis nicht einlösen lassen; welche Probleme es hier im Detail gibt, sickert erst nach und nach bei den Wählern durch. Doch von den linken Parteien haben sie das nicht erfahren.
Als der damalige FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache Zahlen nennt, erntet er Empörung. Das Thema wird politisch nicht bespielt, nach einer Studie der Politologin Sieglinde Rosenberger besteht ein Konsens zur „Non-Politicization“, es wird also bewusst nicht auf das politische Tapet gebracht. Das mag verständlich sein im Sinn einer Vermeidung öffentlicher Verunsicherung, löst aber kein Problem.
Ab Herbst 2015 wird schließlich für jeden ersichtlich, dass das System auch im größeren Rahmen nicht funktioniert. Die Dublin-Verordnungen sind Makulatur, Grenzen werden willkürlich geöffnet und wieder geschlossen, Flüchtlinge und Migranten ohne behördliche Intervention in die Zielländer durchgewinkt. Für manche bleibt das „Asyl-Shopping“auch weiterhin ein politisch ersehntes Ideal. Ingrid Felipe, grüne Spitzenkandidatin des Jahres 2017, veröffentlicht im Februar 2016 ihre Überlegungen dazu: „Erstes Ziel muss das Schaffen legaler Wege nach Europa und dort in das Zielland der Flüchtlinge sein. Ein solidarisches Europa zwingt Menschen nicht mittels Quote in bestimmte Länder, sondern es gilt die Reisefreiheit.“Grüne und SPÖ sehen die Lösung des Problems in der „Bekämpfung der Fluchtursachen“– wie man diese bekämpft, wenn in einer großen Zahl der Fälle gar keine originäre Flucht vorliegt und die Migrationsbewegungen ein Gebiet betreffen, das sich von der Subsahara bis zum Hindukusch erstreckt, erklären sie nicht.
Warnungen verhallen
Auch Etikettenschwindel wird betrieben. Von Beginn weg, teilweise bis heute, sprechen Medien wie Politiker pauschal von „Flüchtlingen“, „Geflüchteten“, „Schutzsuchenden“. Doch „Flüchtling“ist nach der Genfer Flüchtlingskonvention, dem UNHCR und auch den nationalen Rechtsordnungen nur, wer über nachvollziehbare Fluchtgründe verfügt, und diese Bilanz ist gemischt. Im Sommer 2015, noch vor Beginn der großen Welle, warnt selbst die Pressestelle des UNHCR vor einer Vermengung der Kategorien. Die Warnung verhallt ungehört.
Migrationsfragen sind wesentliche Zukunftsthemen, über die wir uns offen unterhalten müssen. Doch das kann nur gelingen, wenn dem Wähler der Eindruck vermittelt wird, dass alle Karten auf den Tisch kommen. Dass das keine leichte Aufgabe ist, sei zugestanden, aber es gibt dazu keine Alternative. Nur die Wahrheit befreit.