„Forschung muss in die Wildnis hinaus“
Die Idee hinter Living Labs ist, neue Technologien vorab dort zu untersuchen, wo sie später eingesetzt werden. Ein Beispiel ist der digitale Coach für Menschen, die in Pension gehen. Die App wird mit Feedback der Betroffenen gestaltet.
Der freundlich grüßende Avatar ist in der neuen Version wieder verschwunden. Die Kunstfigur in der HandyApp „Proself“, die Menschen beim Übergang in den Ruhestand unterstützen soll, hat sich nämlich nicht bewährt. „Die ursprüngliche Idee war ein persönlicher Assistent in Gestalt einer Frau oder eines Mannes. Damit haben wir hohe Erwartungen an die Intelligenz geweckt, die aber nicht erfüllt werden konnten. Man konnte nicht frei mit dem Avatar reden, die Ressourcen für eine Weiterentwicklung wären zu hoch gewesen“, erzählt Johannes Kropf.
Der technische Mathematiker leitete das europäische Forschungsprojekt „Agewell“am Austrian Institute of Technology (AIT), seit Oktober ist er beim Unternehmen Salumentis für Forschung und Entwicklung – und damit für die Weiterentwicklung der mittlerweile marktreifen App – zuständig. Was er schildert, zeigt, wie Technologieentwicklung heute im besten Fall funktioniert. In sogenannten Living Labs bindet man diejenigen früh ein, die eine Innovation einmal nutzen sollen.
Ab ins echte Leben
„Wir gehen dorthin, wo die User sind: nach Hause, in ein Krankenhaus, in den jeweiligen Anwendungskontext – anstatt sie in eine künstliche Umgebung zu bringen“, schildert Manfred Tscheligi, Leiter des Center for Technology Experience am AIT und Professor für Human-Computer Interaction an der Uni Salzburg. Forschen „in the wild“, also in der Wildnis, nennt man das in seiner Disziplin. Es sei dringend notwendig hinauszugehen, denn gerade in der MenschMaschine-Interaktion erlebe man komplexe Situationen, die sich anders nicht abschätzen lassen. Es dürfe nicht passieren, dass Technologie am Menschen vorbeientwickelt wird.
So ist man auch bei „Agewell“vorgegangen. Jeweils 40 Nutzerinnen und Nutzer in Italien und den
Niederlanden, die kurz vor oder nach der Pensionierung standen, testeten die App. Sie bekamen zehn Wochen lang Angebote, die ihnen helfen sollten, ihr körperliches, emotionales, soziales und mentales Wohlbefinden zu steigern. „Die große Herausforderung war die Frage, wie man Menschen dabei unterstützen kann, einen möglichst guten Übergang vom Berufsleben in den Ruhestand zu finden. Das ist eine Lebensphase, auf die sich viele freuen und auf die man sich aktiv vorbereiten sollte“, sagt der aktuelle Projektleiter, Markus Garschall vom AIT Center of Technology Experience.
Während man aktiv im Arbeitsleben stehe, fehle dazu jedoch oft die Zeit. Und dann seien viele plötzlich überfordert, führt der Forscher, der auch Präsident von AAL Austria, einer Innovationsplattform für intelligente Assistenz im Alltag ist, aus. Vor allem bei jenen, die sich über Jahre stark mit
ihrer beruflichen Aufgabe identifiziert haben, könne der Wechsel in die neue Lebensphase sogar das Selbstbild massiv bedrohen.
Das soll sich vermeiden lassen, indem das digitale Coaching über die App dazu anregt, die eigenen Potenziale und Bedürfnisse zu reflektieren
und sich bewusst für eine Perspektive zu entscheiden. Hinter dem nach dreijähriger Forschung heuer im Jänner 2022 abgeschlossenen Projekt steckt viel Idealismus: „Mir ist es wichtig, mit neu entwickelten Technologien einen sozialen Mehrwert zu schaffen“, sagt Garschall.
Einen Mehrwert könnte es auch für die Zukunft geben: Die Erkenntnisse sollen sich, freilich inhaltlich adaptiert, auch für Menschen im Gesundheits- und Pflegebereich oder pflegende Angehörige nutzen lassen. „Also für all jene, denen Coaching zu mehr Resilienz verhelfen kann“, so Tscheligi.
Grenzenlos nutzen
Parallel zu „Agewell“startete im April 2021 das EU-Projekt „Vitalise“– allerdings mit noch stärkerem Fokus auf die Methode: Darin vernetzen sich Living Labs aus ganz Europa und testen in Clustern unterschiedliche Lösungen für Gesundheit
und Wohlbefinden. Der Forschungsansatz als Forschungsgegenstand also, denn bisher war der Lebenszyklus solcher Labore meist auf die Dauer des Projekts begrenzt, und sie ließen sich nicht überregional miteinander verknüpfen. Dieses Potenzial will man künftig besser nutzen: 19 Organisationen aus zehn EU-Ländern sowie Kanada haben sich dazu zusammengeschlossen.
Am AIT geht man im Zuge dessen „noch einmal einen Schritt zurück“und will schauen, ob das digitale Coaching in der App für die Zielgruppe passt. Dazu testen seit Anfang November belgische und österreichische Nutzerinnen und Nutzer die Technologie. Sie geben – der Idee eines Living Lab folgend – dem Forschungsteam laufend via App, über ein Tagebuch und in Workshops Feedback zu den Erfahrungen. Die Resultate fließen in die Weiterentwicklung mit ein.