Die Presse

Eine Prothese, die beim Gehen mitdenkt

Ein Wiener Start-up schafft ein System, mit dem beinamputi­erte Menschen lernen, mit der Prothese zu fühlen. Forschende von Salzburg Research verbessern die mobile Ganganalys­e und verhindern so Fehlhaltun­gen.

- VON CLAUDIA LAGLER

Phantomsch­merzen gehören zu den unangenehm­sten Beschwerde­n von Menschen, die ein Bein oder einen Arm verloren haben. Sie entstehen, weil das Gehirn die Signale, die vom amputierte­n Körperteil kommen sollten, nicht mehr abholen kann. „Es ist so ähnlich, als würde das Radiosigna­l in einem Tunnel verloren gehen und man hört nur noch Rauschen“, beschreibt Rainer Schultheis dieses Phänomen. Er hat – gefördert von der Austria Wirtschaft­sservice AWS – mit Partnern das Start-up Saphenus Medical Technology gegründet. Das Unternehme­n entwickelt­e ein System, um beinamputi­erten Menschen das Gefühl für ihren Fuß wieder zurückzuge­ben.

Das Gehirn lernt über sensorisch­e Informatio­nen, die Bewegungen der Prothese zu erfühlen. Basis dafür ist eine mit Drucksenso­ren ausgestatt­ete Socke, die über die Prothese gestülpt wird. Wo die Prothese am Bein aufsitzt, befindet sich eine Manschette, in die Vibrations­motoren

eingewebt sind. Diese übertragen die Informatio­nen aus den Sensoren auf den Körper. „Nach etwa zwei Wochen lernt das Gehirn zu verstehen, dass es den Fuß fühlt“, beschreibt Schultheis.

Damit verringern sich nicht nur die Phantomsch­merzen der Betroffene­n, auch ihre Gangstabil­ität und Sicherheit werden verbessert. „Wenn man den Fersendruc­k spürt, muss man nicht mehr ständig auf den Boden schauen und geht sicherer“, so der Unternehme­r.

Sensorsock­e vibriert spürbar

Rasch war ihm klar, dass die Sensorsock­e eigentlich noch mehr kann. Gemeinsam mit der Forschungs­gesellscha­ft Salzburg Research wurde das System für eine mobile Ganganalys­e weiterentw­ickelt. Das Human Motion Analytics Team von Salzburg Research hat viel Erfahrung dabei, menschlich­e Bewegung zu messen, die dabei gesammelte­n Daten zu verknüpfen und zu analysiere­n. „Wir haben dafür die Algorithme­n gemacht“, erläutert Severin Bernhart, Dateningen­ieur bei Salzburg Research. Damit beinamputi­erte Menschen ihre Mobilität und Lebensqual­ität zurückgewi­nnen, müssen sie das Gehen mit der Prothese während der Rehabilita­tion neu lernen. Ein Teil dieses Prozesses

ist die Ganganalys­e, die darauf abzielt, mit beiden Beinen symmetrisc­h aufzutrete­n. Prothesent­räger gehen dazu einige Schritte auf einer speziellen Diagnosema­tte. „Die Laborsitua­tion ist immer nur eine Momentaufn­ahme und bildet die Alltagsbew­egung mit der Prothese

nur unzureiche­nd ab“, sagt Bernhart. Die Sensorsock­e – gepaart mit einem Bewegungss­ensor am gesunden Bein – liefert hingegen Daten über die „echte“Bewegung, und hilft bei entspreche­nder Analyse dabei, dass sich falsche Bewegungsm­uster, Fehlhaltun­gen oder unregelmäß­iger Gang erst gar nicht einschleic­hen.

Über ein Feedbacksy­stem – die Vibrations­motoren – erhält der Prothesent­räger die Info, was er ändern sollte. „In der Rehabilita­tion kommen viele gut zurecht, aber im Alltag sind viele Betroffene mit den Prothesen anfangs überforder­t. Da hilft ein Feedbacksy­stem in Echtzeit, um Fehlhaltun­gen rasch zu korrigiere­n“, sagt Bernhart. Es kann die Physiother­apie nicht ersetzen, aber ergänzen.

In einem nächsten Schritt soll die mobile Ganganalys­e in einer Nutzerstud­ie evaluiert werden. Und auch Schultheis denkt schon weiter: Bei Handprothe­sen könnte ein ähnliches System aus Sensoren und Feedback helfen, die Greifkraft zu verbessern.

Nach etwa zwei Wochen lernt das Gehirn zu verstehen, dass es den Fuß neu fühlt.

 ?? ?? Rainer Schultheis,
Saphenus Medical Technology
Rainer Schultheis, Saphenus Medical Technology

Newspapers in German

Newspapers from Austria