„Die Antisemiten waren nie verschwunden“
Der neue Direktor des Wiener Wiesenthal-Instituts, Jochen Böhler, über das umstrittene Lueger-Denkmal, den Stellenwert der Täterforschung zum Holocaust und die Rolle der Schule im Kampf gegen Antisemitismus.
Als Sie Ihren Job als neuer Direktor des Wiener Wiesenthal-Instituts antraten, kündigten Sie an, mit öffentlichen Statements zu aktuellen Debatten sparsam umzugehen. Eine solche Debatte läuft rund um das Karl-Lueger-Denkmal. Haben Sie dazu etwas zu sagen?
Jochen Böhler: Auf jeden Fall. Was ich meinte, war, dass wir nicht auf jeden Zug aufspringen wollen. Es ist nicht unser Tagesgeschäft, uns zu politischen Fragen zu äußern. Aber bei Fragen von geschichtspolitischer Relevanz werden wir unsere Stimme einbringen. Ich will aber nicht für meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sprechen, sondern wir diskutieren immer erst intern und beziehen dann als Institut Stellung.
Und welche Lösung würden Sie, nur für sich gesprochen, für das Denkmal empfehlen? Wäre eine Abtragung „Geschichtsverwässerung“, wie manche meinen?
Es besteht ein starker Handlungsbedarf, das merkt man auch an der Schärfe der Diskussion und daran, dass das Denkmal regelmäßig beschmiert wird. Aktuell läuft ein Wettbewerb zur permanenten Kontextualisierung, da bin ich gespannt, was herauskommt. Das, was Lueger betrieben hat, reicht jedenfalls weit über den Ende des 19. Jahrhunderts gesellschaftsfähigen Antisemitismus hinaus. Wir sprechen da von Äußerungen, die bis hin zu Gewalt gegen Juden gehen. Da ist für mich eine Grenze. Deswegen würde ich eine Entfernung des Denkmals nicht ausschließen oder gar sagen, dass man damit die Geschichte entsorge. Eine Mindestforderung müsste eine Umbenennung des Platzes sein.
Die Israelitische Kultusgemeinde kritisierte im Zuge der Ausschreibung der Direktionsstelle, dass die Täterforschung am Institut in den Hintergrund gerückt sei.
Diese Kritik finde ich nicht berechtigt, das habe ich von außen nicht so wahrgenommen. Ich selbst komme stark aus der Täterforschung,
und das bedeutet, das Feld wird mit mir hier auch einen Schwerpunkt bekommen. Aber wir drehen das Ruder jetzt nicht völlig um und machen keine Opferforschung mehr. Das Institut wird weiterhin ein breites Spektrum haben.
Vor wenigen Jahren wurden die NS-Täterzahlen radikal nach oben korrigiert. Wie schaut es dahingehend in Österreich aus?
Es ist wohl so, dass Wiesenthal nicht recht geghabt hat, als er gemeint hat, dass Österreicher überproportional unter den Tätern des Holocaust vertreten gewesen wären. Allerdings waren Österreicher an sehr prominenten Stellen der Ermordung der europäischen Juden involviert, Adolf Eichmann oder Odilo Globocnik zum Beispiel. Die werfen natürlich das Scheinwerferlicht auf Österreich.
Eine Gruppe, die lang vernachlässigt wurde, waren die Täterinnen. Wo orten Sie weitere Forschungslücken?
Man denkt vielleicht, der Holocaust sei ausgeforscht, das ist nicht so. Das ist ein riesiger Komplex. Der Holocaust fand europaweit, auch unter Beteiligung anderer
Staaten wie Frankreich, Ungarn, Rumänien oder Kroatien, statt. Was die Anzahl der Täterinnen und Täter in ehemals besetzten Gesellschaften anbelangt, gibt es noch viel zu erforschen.
Die in zweiter und dritter Reihe?
Es geht darum, wie sich die sogenannten Bystanders, die Mitläufer, verhalten haben. Diese Kategorie ist ja ziemlich nichtssagend. Darüber wird in den jeweiligen Ländern heute heftig diskutiert. Nicht, dass in Abrede gestellt wird, dass es Menschen gegeben hat, die sich an der NS-Vernichtungspolitik beteiligt haben. Die Frage ist: Wie viele waren es? Das sind Dinge, die sich nur durch verstärkte, auch soziologische Forschungen auf lokaler Ebene klären lassen. Diese Forschungen laufen schon länger und beschäftigen uns vermutlich noch die nächsten zwei, drei Jahrzehnte.
Sie sorgen aktuell für Lagerbildungen, da sind Wissenschaftler richtiggehend zerstritten. Wir bringen uns gern in die Diskussion ein. Aber wir sagen den Ländern bestimmt nicht, wie sie ihre Aufarbeitung zu machen haben.
Noch dazu, da es auch in Österreich viel zu tun gibt, wie etwa die Zahlen zu antisemitisch motivierten Gewalttaten zeigen, die wellenartig steigen und fallen.
Wenn man gedacht hat, der Antisemitismus sei aus den europäischen Gesellschaften verschwunden, dann war das ein naiver Gedanke. Ein Gedanke, dem ich, ehrlich gesagt, auch eine Zeit lang angehangen bin. Die Zahlen zeigen ziemlich klar, dass die Antisemiten nie verschwunden waren. Die Frage ist, was darf man öffentlich sagen und was nicht, und da gab es eine Verschiebung. Das ist unter anderem den sozialen Medien geschuldet. Damit – und ganz allgemein mit Rassismus – müssen wir uns auseinandersetzen. Wie Wiesenthal wollen wir als Institut die Vergangenheit nicht einfach verwalten, sondern die Beschäftigung mit ihr erfährt ihren Sinn durch die Aktion in der Gegenwart.
Und wie schaut die konkret aus?
Es gibt bestimmte Entwicklungen wie autoritäre Tendenzen und rechte Gewalt, die beunruhigend sind, und eine Gesellschaft muss sich darüber im Klaren sein, wo diese hinführen können. Nur dann sind wir dagegen gewappnet. Der Schlüssel liegt in den Schulen. Da können wir mithelfen, das Wissen um den Holocaust an die richtigen Stellen zu bringen. Es muss so in die Lehrpläne integriert werden, dass es auch die verstehen, die keine österreichischen oder deutschen Vorfahren haben. Etwa, indem man den Holocaust als einen Genozid versteht – ohne seine Singularität infrage zu stellen. Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund haben ihre eigene Geschichte mit Gewalt in ihrer Kultur. Wir müssen also hinschauen und aufzeigen, was Menschen dazu bringt, anderen Menschen derartige Gewalt anzutun.