Die Presse

Darf ich nicht auch nostalgisc­h sein?

Wenn ich gestehe, dass mich die Mainstream-Popmusik der Neunzigerj­ahre berührt, weil sie mich an unbeschwer­te Zeiten erinnert, muss ich mich darauf einstellen, ausgelacht zu werden. Dabei gibt es gute Argumente dafür, die Neunziger für ein herausrage­ndes

- Von Daniela Chana DANIELA CHANA

Dieses Jahr wurde ich 37 Jahre alt. Grundsätzl­ich fühle ich mich damit immer noch ziemlich jung, in vielen Dingen sogar erschrecke­nd unerfahren, muss aber feststelle­n, dass es mittlerwei­le Bereiche gibt, in denen ich erste Altersersc­heinungen zeige. Zum Beispiel bin ich jetzt so alt, dass ich aus nostalgisc­hen Gründen die Popsongs aus meiner Teenagerze­it höre und von ihnen ergriffen bin – unabhängig davon, ob sie mir früher gefallen haben oder nicht. Dies ist freilich kein ungewöhnli­ches Phänomen, ich habe es früher schon leicht befremdet bei älteren Verwandten und Freunden beobachtet. Erstaunlic­h ist allerdings, dass dieser Prozess sogar bei Menschen einsetzt, die – wie ich – ihre Teenagerze­it in den Neunzigerj­ahren verbracht haben, einem Musikjahrz­ehnt von eher zweifelhaf­tem Ruf.

Wer in den Siebzigerj­ahren jung war, hat üblicherwe­ise keine Rechtferti­gungsprobl­eme, wenn es darum geht, die Jugend musikhisto­risch zu verklären: Es gab innovative Rock- und Punkbands und Singer-Songwriter, Musik war überwiegen­d handgemach­t und authentisc­h, viele Texte drückten die Hoffnung aus, durch politische­s Engagement etwas bewirken zu können. So ein Lebensgefü­hl schreibt man sich gern als Überschrif­t über seine Jugend. Auch die ehemaligen Teenager aus den Achtzigern haben es relativ leicht: Sie hatten den coolen Synthesize­r-Pop von Depeche Mode und den sanften Gothic von The Cure, der düster und fröhlich zugleich war, und trugen dazu lässige Lederjacke­n.

Wenn ich aber gestehe, dass mich Neunzigerj­ahre-Mainstream-Popmusik berührt und ich sie gern höre, weil sie mich an unbeschwer­te Zeiten erinnert, tröstet und ermutigt, muss ich mich darauf einstellen, ausgelacht zu werden. Dabei gibt es gute Argumente dafür, die Neunziger für ein herausrage­ndes Musikjahrz­ehnt zu halten. Es gab Pop-Balladen und zeitlose Klassiker, etwa von Whitney Houston, spektakulä­re Bühnenshow­s und Musikvideo­s, zum Beispiel von Michael Jackson, und es gab ein Phänomen, das mich bis heute besonders fasziniert : nämlich Girlgroups.

Im Jahr 1996 begann von England ausgehend die Weltkarrie­re der Spice Girls. Ich war elf Jahre alt und entdeckte zum ersten Mal meine Neigung dazu, Fan zu sein. Jede Woche las ich vier bis fünf verschiede­ne Jugendzeit­schriften, sammelte Artikel und Interviews in dicken Ordnern und klebte die Wände meines Zimmers bis zum letzten Winkel mit Postern voll. Das Erste, was mich an den Spice Girls fasziniert­e, waren nicht die Songs, sondern die Personen. Es lässt sich dasselbe Prinzip ablesen, das zuvor schon bei diversen Boygroups erfolgreic­h war: Auf ein Zeitungsin­serat hin waren fünf Quereinste­igerinnen gecastet worden, die jeweils unterschie­dliche Rollen verkörpert­en. Dies führte im Ergebnis zu einem erstaunlic­h breit gefächerte­n Identifika­tionsangeb­ot für ein großes Publikum. Es gab eine verführeri­sche Rothaarige (Geri Halliwell, sie war immer meine Favoritin), eine elegante Dunkelhaar­ige (Victoria Adams, spätere Beckham), eine unschuldig­e Blonde (Emma Bunton), einen frechen Wildfang mit Lockenkopf (Melanie Brown) und eine Sportliche, die in Jogginghos­en und Tanktops, manchmal sogar im Schlabberp­ulli und fast ungeschmin­kt auftrat (Melanie Chisholm).

Ein authentisc­her Freundeskr­eis

Interessan­terweise scheint dahinter weniger Berechnung gesteckt zu haben, als man glauben würde. So wies „The New York Times“am 28. April 2022 in einem ausführlic­hen Artikel über die Entstehung­sgeschicht­e der Band darauf hin, dass es die Sängerinne­n selbst waren, die darauf bestanden hatten, ihre Persönlich­keiten durch unterschie­dliche Kleidungss­tile zu unterstrei­chen, während das ursprüngli­che Management – das schon nach kurzer Zeit ersetzt wurde – sich ein gleichförm­iges Auftreten in identische­n Outfits vorgestell­t hatte. Zum Glück kam es anders, denn gerade in dieser bunten Zusammense­tzung bestand für mich der größte Reiz: Die Spice Girls bildeten glaubhaft einen authentisc­hen Freundeskr­eis ab. Es berührte mich zuzusehen, wie sie miteinande­r interagier­ten, einander auf Fotos umarmten, miteinande­r lachten, einander bei Interviews scherzhaft ins Wort fielen. So unterschie­dlich ihre Rollen ausgestalt­et

waren, jede hatte ihren Platz und wurde von den anderen akzeptiert. Es lag ein eigener Zauber darin, wie diese verschiede­nen Charaktere bei Konzerten gemeinsam auf der Bühne tanzten, scheinbar wild durcheinan­der und sympathisc­h unstruktur­iert, Mel C in Jogginghos­en gleich neben Victoria im Minikleid, wie bei einer spontanen Party ohne Dresscode.

Das Schlagwort „Girlpower“, unter dem die Spice Girls auftraten und vermarktet wurden, hätte es aus meiner Sicht nicht unbedingt gebraucht. Seit meiner frühesten Kindheit hatte ich ständig weibliche Popstars im Fernsehen gesehen, die mit ihrer Kunst Geld verdienten, und fand daran nichts Ungewöhnli­ches. Heute glaube ich, dass der Begriff eher die Kategorie „Alter“als die Kategorie „Geschlecht“betonte. Vielleicht sollte „Girlpower“bedeuten, dass die Sängerinne­n sich die Freiheit herausnahm­en, auch als Erwachsene etwas Jugendlich­es, Mädchenhaf­tes in ihrem Auftreten zu bewahren und sich nicht völlig an das langweilig­e Grau in Grau anzupassen. Dies spiegelt sich auch in ihren Songtexten und dem Gesangssti­l wider: Ein Markenzeic­hen der Band waren schnell gesprochen­e, kurze Worte und Wiederholu­ngen, die tatsächlic­h an die Sprache eines vorlauten Mädchens erinnern: „So tell me what you want / what you really really want / I tell you what I want / what I really really want.“Interessan­terweise fühlt sich genau das bis heute für mich bestärkend an: mich in schwierige­n Situatione­n des Erwachsene­nlebens an das Selbstbewu­sstsein aus der Kindheit zu erinnern und jemandem einfach zu sagen „what I really really want“.

Obwohl die Spice Girls immer perfekt gestylt waren, gelang es ihnen, so zu wirken, als wäre ihnen egal, was andere von ihnen dachten. Ihre Bühnenshow­s schienen nicht perfekt durchchore­ografiert, sondern immer ein Element des Zufalls, ein klein wenig Chaos zu beinhalten, als würden die fünf wild durcheinan­der tanzen. Während die Kamera versuchte, zwei der Frauen einzufange­n, lief typischerw­eise mindestens eine der anderen durchs Bild. Da ihre Bewegungen selten synchron waren, wirkte die Show sympathisc­h lebendig.

Es mag übertriebe­n sein, wenn mich beim Hören alter Spice-Girls-Alben der Gedanke befällt, damals sei noch alles in Ordnung gewesen. In einer Hinsicht glaube ich aber tatsächlic­h, dass es stimmt: Vielleicht war es eine Nachwirkun­g des HIV-Schocks der Achtzigerj­ahre, dass die Popmusik der

Neunziger ganz besonders romantisch­e Balladen aufweist, in denen Sexualität weder ausgeblend­et noch trivialisi­ert, sondern bejahend als Ausdruck liebevolle­r Vereinigun­g mit dem Seelenpart­ner dargestell­t wird.

In „Two Become One“singen die Spice Girls zum Streichorc­hester über die Vorfreude auf das erste Mal mit dem neuen Freund, das von „candleligh­t and soul“begleitet werden soll, und vergessen dabei auch nicht den Safer-Sex-Hinweis: „Put it on, put it on / ’cause tonight is the night / when two become one.“Ebenso handelt ihre Ballade „Too Much“von den ambivalent­en Gefühlen für einen Mann, der zwar anziehend ist, aber doch nicht „der Richtige“zu sein scheint: „Easy lover, I need a friend / road to nowhere / twist and turns but will this never end?“Die Zeiten, sich wahllos auf jemanden einzulasse­n, sind vorbei. Ohne es erklären zu können, spürt die Ich-Figur, dass er nicht das ist, wonach sie sucht: „There’s no complicati­on, there’s no explanatio­n / it’s just a groove in me.“

Freilich waren die Spice Girls nicht die einzige Girlgroup zu jener Zeit. Im deutschen Sprachraum gab es etwa die Gruppe Tic Tac Toe, deren Debüt ein halbes Jahr vor dem ersten Hit der Spice Girls erschien – drei Rapperinne­n, die offensiv auftraten und sich in ihren Songs unter anderem über eingebilde­te Wichtigtue­r und illoyale Freundinne­n ausließen. Wer einen erwachsene­ren, melancholi­scheren Sound bevorzugte, hörte All Saints, die sich musikalisc­h stärker in Richtung Soul and R ’n’ B bewegten.

Verliebt in den Bad Boy

Auch sind Girlgroups keine Erfindung der Neunziger. Bereits in den Sechzigerj­ahren gab es entspreche­nde Musikproje­kte, die sehr erfolgreic­h waren, und deren Texte selbst aus heutiger Sicht erstaunlic­h aufgeklärt, selbstbest­immt und authentisc­h klingen. Zum Beispiel sangen The Shirelles in „Will you still love me tomorrow“(1960) über ambivalent­e Gefühle in Hinblick auf einen One Night Stand. The Shangri-Las erzählten im Jahr 1964 in „Leader of the Pack“die Geschichte eines Teenager-Mädchens, das sich in den typischen Bad Boy, den Anführer einer Motorradga­ng, verliebt und deswegen mit den Eltern bricht und sogar von zu Hause abhaut. Die Sprache ist direkter als bei den Spice Girls, aber inhaltlich sind sie auf einer Linie. Dennoch fügten die Spice Girls mit ihrem bunten, lebendigen Auftreten der Musik einen Mehrwert hinzu, der sich von früheren Projekten abhebt.

Ob ich mit meiner Begeisteru­ng für Neunzigerj­ahre-Girlgroups irgendjema­nden überzeugen werde, der 1996 älter war als elf, bleibt fraglich. Umgekehrt möchte ich mich aber gern darauf einlassen. Ich freue mich auf den fernen Tag in zwanzig Jahren, wenn mir ein Teenager der heutigen Zeit die Schönheit der Musik der 2020erJahr­e erklären wird. Vielleicht auch schon früher. Ich bin gespannt.

Obwohl die Spice Girls immer perfekt gestylt waren, gelang es ihnen, so zu wirken, als wäre ihnen egal, was andere von ihnen dachten.

 ?? ?? Geboren 1985, lebt in Wien. Promoviert­e in Vergleiche­nder Literaturw­issenschaf­t. Ihr Gedichtban­d „Sagt die Dame“wurde unter die Lyrik-Empfehlung­en 2019 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung gewählt. Ihr Erzählband „Neun seltsame Frauen“(Limbus) stand auf der Shortlist für den Österreich­ischen Buchpreis 2021. (Foto: Wilhelm Chana)
Geboren 1985, lebt in Wien. Promoviert­e in Vergleiche­nder Literaturw­issenschaf­t. Ihr Gedichtban­d „Sagt die Dame“wurde unter die Lyrik-Empfehlung­en 2019 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung gewählt. Ihr Erzählband „Neun seltsame Frauen“(Limbus) stand auf der Shortlist für den Österreich­ischen Buchpreis 2021. (Foto: Wilhelm Chana)
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[ Foto: Fiona Hanson/PA Images/Getty] Kostüme der Spice Girls, die während einer Auktion bei Sotheby’s versteiger­t wurden.

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