Darf ich nicht auch nostalgisch sein?
Wenn ich gestehe, dass mich die Mainstream-Popmusik der Neunzigerjahre berührt, weil sie mich an unbeschwerte Zeiten erinnert, muss ich mich darauf einstellen, ausgelacht zu werden. Dabei gibt es gute Argumente dafür, die Neunziger für ein herausragendes
Dieses Jahr wurde ich 37 Jahre alt. Grundsätzlich fühle ich mich damit immer noch ziemlich jung, in vielen Dingen sogar erschreckend unerfahren, muss aber feststellen, dass es mittlerweile Bereiche gibt, in denen ich erste Alterserscheinungen zeige. Zum Beispiel bin ich jetzt so alt, dass ich aus nostalgischen Gründen die Popsongs aus meiner Teenagerzeit höre und von ihnen ergriffen bin – unabhängig davon, ob sie mir früher gefallen haben oder nicht. Dies ist freilich kein ungewöhnliches Phänomen, ich habe es früher schon leicht befremdet bei älteren Verwandten und Freunden beobachtet. Erstaunlich ist allerdings, dass dieser Prozess sogar bei Menschen einsetzt, die – wie ich – ihre Teenagerzeit in den Neunzigerjahren verbracht haben, einem Musikjahrzehnt von eher zweifelhaftem Ruf.
Wer in den Siebzigerjahren jung war, hat üblicherweise keine Rechtfertigungsprobleme, wenn es darum geht, die Jugend musikhistorisch zu verklären: Es gab innovative Rock- und Punkbands und Singer-Songwriter, Musik war überwiegend handgemacht und authentisch, viele Texte drückten die Hoffnung aus, durch politisches Engagement etwas bewirken zu können. So ein Lebensgefühl schreibt man sich gern als Überschrift über seine Jugend. Auch die ehemaligen Teenager aus den Achtzigern haben es relativ leicht: Sie hatten den coolen Synthesizer-Pop von Depeche Mode und den sanften Gothic von The Cure, der düster und fröhlich zugleich war, und trugen dazu lässige Lederjacken.
Wenn ich aber gestehe, dass mich Neunzigerjahre-Mainstream-Popmusik berührt und ich sie gern höre, weil sie mich an unbeschwerte Zeiten erinnert, tröstet und ermutigt, muss ich mich darauf einstellen, ausgelacht zu werden. Dabei gibt es gute Argumente dafür, die Neunziger für ein herausragendes Musikjahrzehnt zu halten. Es gab Pop-Balladen und zeitlose Klassiker, etwa von Whitney Houston, spektakuläre Bühnenshows und Musikvideos, zum Beispiel von Michael Jackson, und es gab ein Phänomen, das mich bis heute besonders fasziniert : nämlich Girlgroups.
Im Jahr 1996 begann von England ausgehend die Weltkarriere der Spice Girls. Ich war elf Jahre alt und entdeckte zum ersten Mal meine Neigung dazu, Fan zu sein. Jede Woche las ich vier bis fünf verschiedene Jugendzeitschriften, sammelte Artikel und Interviews in dicken Ordnern und klebte die Wände meines Zimmers bis zum letzten Winkel mit Postern voll. Das Erste, was mich an den Spice Girls faszinierte, waren nicht die Songs, sondern die Personen. Es lässt sich dasselbe Prinzip ablesen, das zuvor schon bei diversen Boygroups erfolgreich war: Auf ein Zeitungsinserat hin waren fünf Quereinsteigerinnen gecastet worden, die jeweils unterschiedliche Rollen verkörperten. Dies führte im Ergebnis zu einem erstaunlich breit gefächerten Identifikationsangebot für ein großes Publikum. Es gab eine verführerische Rothaarige (Geri Halliwell, sie war immer meine Favoritin), eine elegante Dunkelhaarige (Victoria Adams, spätere Beckham), eine unschuldige Blonde (Emma Bunton), einen frechen Wildfang mit Lockenkopf (Melanie Brown) und eine Sportliche, die in Jogginghosen und Tanktops, manchmal sogar im Schlabberpulli und fast ungeschminkt auftrat (Melanie Chisholm).
Ein authentischer Freundeskreis
Interessanterweise scheint dahinter weniger Berechnung gesteckt zu haben, als man glauben würde. So wies „The New York Times“am 28. April 2022 in einem ausführlichen Artikel über die Entstehungsgeschichte der Band darauf hin, dass es die Sängerinnen selbst waren, die darauf bestanden hatten, ihre Persönlichkeiten durch unterschiedliche Kleidungsstile zu unterstreichen, während das ursprüngliche Management – das schon nach kurzer Zeit ersetzt wurde – sich ein gleichförmiges Auftreten in identischen Outfits vorgestellt hatte. Zum Glück kam es anders, denn gerade in dieser bunten Zusammensetzung bestand für mich der größte Reiz: Die Spice Girls bildeten glaubhaft einen authentischen Freundeskreis ab. Es berührte mich zuzusehen, wie sie miteinander interagierten, einander auf Fotos umarmten, miteinander lachten, einander bei Interviews scherzhaft ins Wort fielen. So unterschiedlich ihre Rollen ausgestaltet
waren, jede hatte ihren Platz und wurde von den anderen akzeptiert. Es lag ein eigener Zauber darin, wie diese verschiedenen Charaktere bei Konzerten gemeinsam auf der Bühne tanzten, scheinbar wild durcheinander und sympathisch unstrukturiert, Mel C in Jogginghosen gleich neben Victoria im Minikleid, wie bei einer spontanen Party ohne Dresscode.
Das Schlagwort „Girlpower“, unter dem die Spice Girls auftraten und vermarktet wurden, hätte es aus meiner Sicht nicht unbedingt gebraucht. Seit meiner frühesten Kindheit hatte ich ständig weibliche Popstars im Fernsehen gesehen, die mit ihrer Kunst Geld verdienten, und fand daran nichts Ungewöhnliches. Heute glaube ich, dass der Begriff eher die Kategorie „Alter“als die Kategorie „Geschlecht“betonte. Vielleicht sollte „Girlpower“bedeuten, dass die Sängerinnen sich die Freiheit herausnahmen, auch als Erwachsene etwas Jugendliches, Mädchenhaftes in ihrem Auftreten zu bewahren und sich nicht völlig an das langweilige Grau in Grau anzupassen. Dies spiegelt sich auch in ihren Songtexten und dem Gesangsstil wider: Ein Markenzeichen der Band waren schnell gesprochene, kurze Worte und Wiederholungen, die tatsächlich an die Sprache eines vorlauten Mädchens erinnern: „So tell me what you want / what you really really want / I tell you what I want / what I really really want.“Interessanterweise fühlt sich genau das bis heute für mich bestärkend an: mich in schwierigen Situationen des Erwachsenenlebens an das Selbstbewusstsein aus der Kindheit zu erinnern und jemandem einfach zu sagen „what I really really want“.
Obwohl die Spice Girls immer perfekt gestylt waren, gelang es ihnen, so zu wirken, als wäre ihnen egal, was andere von ihnen dachten. Ihre Bühnenshows schienen nicht perfekt durchchoreografiert, sondern immer ein Element des Zufalls, ein klein wenig Chaos zu beinhalten, als würden die fünf wild durcheinander tanzen. Während die Kamera versuchte, zwei der Frauen einzufangen, lief typischerweise mindestens eine der anderen durchs Bild. Da ihre Bewegungen selten synchron waren, wirkte die Show sympathisch lebendig.
Es mag übertrieben sein, wenn mich beim Hören alter Spice-Girls-Alben der Gedanke befällt, damals sei noch alles in Ordnung gewesen. In einer Hinsicht glaube ich aber tatsächlich, dass es stimmt: Vielleicht war es eine Nachwirkung des HIV-Schocks der Achtzigerjahre, dass die Popmusik der
Neunziger ganz besonders romantische Balladen aufweist, in denen Sexualität weder ausgeblendet noch trivialisiert, sondern bejahend als Ausdruck liebevoller Vereinigung mit dem Seelenpartner dargestellt wird.
In „Two Become One“singen die Spice Girls zum Streichorchester über die Vorfreude auf das erste Mal mit dem neuen Freund, das von „candlelight and soul“begleitet werden soll, und vergessen dabei auch nicht den Safer-Sex-Hinweis: „Put it on, put it on / ’cause tonight is the night / when two become one.“Ebenso handelt ihre Ballade „Too Much“von den ambivalenten Gefühlen für einen Mann, der zwar anziehend ist, aber doch nicht „der Richtige“zu sein scheint: „Easy lover, I need a friend / road to nowhere / twist and turns but will this never end?“Die Zeiten, sich wahllos auf jemanden einzulassen, sind vorbei. Ohne es erklären zu können, spürt die Ich-Figur, dass er nicht das ist, wonach sie sucht: „There’s no complication, there’s no explanation / it’s just a groove in me.“
Freilich waren die Spice Girls nicht die einzige Girlgroup zu jener Zeit. Im deutschen Sprachraum gab es etwa die Gruppe Tic Tac Toe, deren Debüt ein halbes Jahr vor dem ersten Hit der Spice Girls erschien – drei Rapperinnen, die offensiv auftraten und sich in ihren Songs unter anderem über eingebildete Wichtigtuer und illoyale Freundinnen ausließen. Wer einen erwachseneren, melancholischeren Sound bevorzugte, hörte All Saints, die sich musikalisch stärker in Richtung Soul and R ’n’ B bewegten.
Verliebt in den Bad Boy
Auch sind Girlgroups keine Erfindung der Neunziger. Bereits in den Sechzigerjahren gab es entsprechende Musikprojekte, die sehr erfolgreich waren, und deren Texte selbst aus heutiger Sicht erstaunlich aufgeklärt, selbstbestimmt und authentisch klingen. Zum Beispiel sangen The Shirelles in „Will you still love me tomorrow“(1960) über ambivalente Gefühle in Hinblick auf einen One Night Stand. The Shangri-Las erzählten im Jahr 1964 in „Leader of the Pack“die Geschichte eines Teenager-Mädchens, das sich in den typischen Bad Boy, den Anführer einer Motorradgang, verliebt und deswegen mit den Eltern bricht und sogar von zu Hause abhaut. Die Sprache ist direkter als bei den Spice Girls, aber inhaltlich sind sie auf einer Linie. Dennoch fügten die Spice Girls mit ihrem bunten, lebendigen Auftreten der Musik einen Mehrwert hinzu, der sich von früheren Projekten abhebt.
Ob ich mit meiner Begeisterung für Neunzigerjahre-Girlgroups irgendjemanden überzeugen werde, der 1996 älter war als elf, bleibt fraglich. Umgekehrt möchte ich mich aber gern darauf einlassen. Ich freue mich auf den fernen Tag in zwanzig Jahren, wenn mir ein Teenager der heutigen Zeit die Schönheit der Musik der 2020erJahre erklären wird. Vielleicht auch schon früher. Ich bin gespannt.
Obwohl die Spice Girls immer perfekt gestylt waren, gelang es ihnen, so zu wirken, als wäre ihnen egal, was andere von ihnen dachten.