Mit zwanzig ägyptischen Pfund auf der Flucht
Außerhalb Israels ist die Geschichte von Flucht, Emigration und Vertreibung arabischer Juden aus den islamisch dominierten Staaten nahezu unbekannt.
In Israel wird der 30. November als Gedenktag an Flucht und Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern und dem Iran begangen. Das entsprechende Gesetz wurde 2014 im israelischen Parlament verabschiedet. Bereits 2010 hatte die Knesset den Beschluss gefasst, dass keine israelische Regierung ein Friedensabkommen unterzeichnen darf, das nicht auch die Frage der Entschädigung der jüdischen Flüchtlinge aus den arabischen Ländern und aus dem Iran regelt. Außerhalb Israels ist die Geschichte von Flucht, Emigration und Vertreibung der Juden aus den islamisch dominierten Staaten jedoch weiterhin nahezu unbekannt.
Während im 19. Jahrhundert noch zahlreiche Juden aus Russland und dem Balkan ins Osmanische Reich geflohen waren, kam es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Massenexodus der Juden aus den islamisch geprägten arabischen Gebieten. Flucht, Vertreibung und Emigration der Juden aus den arabischen Ländern waren nahezu total. Sie standen nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit einem Kriegsgeschehen – anders als im Fall der arabischen Flüchtlinge, die im Zuge der israelischen Staatsgründung maßgeblich aufgrund des sofort einsetzenden Angriffskrieges der Armeen Ägyptens, Syriens, Jordaniens, Libanons und des Irak zustande kamen.
Zwischen 1941 und 1948 gab es zahlreiche antijüdische Ausschreitungen in Syrien, im Libanon, im Irak, auf der arabischen Halbinsel, in Ägypten und im übrigen Nordafrika. Von den fast 900.000 in arabischen Ländern vor 1948 lebenden Juden sind heute nur wenige Tausend übrig geblieben, die Mehrheit von ihnen in Marokko und Tunesien. Im mehrheitlich nicht arabischen Iran, wo vor der Islamischen Revolution zwischen 100.000 und 150.000 Juden gelebt hatten, haben nach der Machtübernahme des Ajatollah-Regimes 1979 über 90 Prozent der jüdischen Minderheit das Land verlassen. Von den über 250.000 marokkanischen Juden sind nur etwa 2000 im Land geblieben. In Tunesien lebten 100.000 Juden, heute sind es etwa 1500. In Ägypten lebten 1948 75.000 und im Irak 135.000 Juden, heute sind es jeweils weniger als 20. Im Jemen waren es etwa 60.000, heute wird ihre Zahl auf 50 geschätzt. Die syrische jüdische Gemeinde wurde von 30.000 auf weniger als 15 dezimiert. In Algerien lebten 1948 140.000 Juden, in Libyen 38.000. In beiden Ländern leben heute überhaupt keine Juden mehr. Auch kleine jüdische Gemeinden wie in Bahrein, wo bereits 1947 nach dem UNTeilungsbeschluss für das Mandatsgebiet Palästina das Pogrom von Manama stattfand, waren von dem Exodus betroffen: 1948 lebten etwa 600 Juden in dem Golfstaat, heute sind es 40.
In vielen Fällen mussten die Flüchtlinge nahezu ihren gesamten Besitz zurücklassen. In Ägypten durften die zur Flucht genötigten Juden nur 20 ägyptische Pfund mitnehmen. Die Schätzungen der von Juden in den arabischen Ländern insgesamt seit 1948 zurückgelassenen und konfiszierten Werte variieren sehr stark. Die maximalen Schätzungen reichen bis zu 300 Milliarden USDollar nach heutiger Bewertung, davon über 100.000 Quadratkilometer Landbesitz, was einer Fläche etwa fünfmal so groß wie Israel entspricht.
Die Gründe für die Flucht und Emigration von 850.000 Juden aus den arabischen Ländern sind mannigfaltig. Neben „Push“Faktoren wie ökonomische Not und politische Instabilität in den arabischen Staaten, Diskriminierungen und im Falle Ägyptens aktive Vertreibung existierten auch „Pull“Faktoren wie die zionistische oder religiöse Sehnsucht nach einer jüdischen Heimstätte, deren Erfüllung durch die Gründung Israels seit 1948 realisierbar erschien. Die Hauptursache muss jedoch in den antijüdischen Traditionen der islamisch dominierten Gesellschaften, dem manifesten Antisemitismus der jeweiligen arabischen Führungen und der antisemitischen Sicht auf den Konflikt mit Israel im Mainstream der arabischen Politik gesehen werden.
Juden als „Schutzbefohlene“
Die Situation von Juden in den islamischen Gesellschaften war noch im 19. Jahrhundert in der Regel besser als jene der meisten jüdischen Minderheiten in den christlich geprägten Gesellschaften Europas. Das bedeutet aber nicht, dass Juden in den islamischen Gesellschaften gleichberechtigt leben konnten: Auch in den vergleichsweise unblutigen Perioden des jüdisch-muslimischen Zusammenlebens in der arabischen Welt, in denen Juden als „Schutzbefohlene“(„dhimmis“) toleriert wurden, handelte es sich um eine Toleranz, „die aus Verachtung bestand“, wie der aus Marokko stammende französische Historiker George Bensoussan in seinem Essay „Die Juden der arabischen Welt“schreibt. Die Institution der dhimma war ein Status der Demütigung und der Erniedrigung, der Juden zahlreichen exkludierenden Sonderregelungen unterwarf. Schon lange vor 1948 hat die auf Verachtung beruhende Diskriminierung immer wieder auch zu blutiger Verfolgung geführt: Eines der ersten Pogrome gegen Juden in Europa mit etwa 4000 Opfern war bereits im Jahr 1066 das Massaker von Granada, das zu dieser Zeit unter islamischer Herrschaft stand. Ende des 18. Jahrhunderts wurden beispielsweise die Juden aus dem saudi-arabischen Dschidda vertrieben, 1790 kam es zu einem Pogrom im marokkanischen Tetuan, 1828 zu einem in Bagdad, 1834 zu Gewaltausbrüchen gegen die jüdische Gemeinde im heute in Israel gelegenen Safed.
Für oder gegen den Zionismus
Im 19. Jahrhundert nahmen Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden im Osmanischen Reich zu. Forciert wurden sie zunächst vorrangig von christlichen Propagandisten, Ende des 19. Jahrhunderts jedoch immer öfter in islamischen Publikationen aufgegriffen. Im 19. und 20. Jahrhundert vermischten sich klassisch antijüdische Motive aus der islamischen Tradition mit Elementen des modernen Antisemitismus. Diese Radikalisierung der arabisch-islamischen Judenfeindschaft setzte vor der israelischen Staatsgründung ein. Zum einen wurde sie durch die nationalsozialistische Propaganda im Nahen und Mittleren Osten befeuert, zum anderen war sie eine Reaktion
auf die partielle Autoemanzipation der Juden in den arabischen Gesellschaften.
Spätestens mit den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs war großen Teilen der arabischen Juden klar, dass es keinen nennenswerten Unterschied machte, ob sie sich für oder gegen den Zionismus aussprachen. Die islamisch geprägte Mehrheitsbevölkerung in den arabischen Staaten hat sich in ihrem Verhalten gegenüber der jüdischen Minderheit kaum daran orientiert, ob diese sich – wie in Syrien und im Irak – zu großen Teilen lautstark dem arabischen Antizionismus anschlossen; wie in Ägypten permanent ihre Loyalität bekundeten; sich – wie teilweise in Tunesien und Libyen – offen hinter die zionistische Sache stellten; oder – wie häufig in Algerien – sich angesichts des Charakters des arabischen und panarabischen Nationalismus auf die Seite der Kolonialmacht schlugen.
Es gab allerdings wichtige Ausnahmen vom radikalen arabisch-nationalistischen und islamischen Antisemitismus. Im Mandatsgebiet Palästina mussten sich die Anhänger des offen antisemitischen und mit dem Nationalsozialismus kollaborierenden Mufti Amin al-Husseini erst durch brutale Gewalt gegen deutlich moderatere Fraktionen auf arabischer Seite durchsetzen. Während der Pogrome im Irak 1941 wurden nicht nur Juden ermordet, sondern auch Araber, die sich schützend vor ihre jüdischen Nachbarn stellten. In Tunesien konnte oder wollte Habib Bourguiba als erster und langjähriger Präsident nach der Unabhängigkeit Ende der 1950er-Jahre zwar nichts gegen den Exodus der tunesischen
Juden unternehmen – und er hat sich durchaus auch antisemitisch geäußert –, gleichzeitig aber Positionen gegenüber Israel vertreten, die ihn zum Gegenspieler des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser machten. Gegen Nassers radikale antiisraelische Hetze agierte Bourguiba im Sinne eines moderaten Realismus, der auf eine friedliche Lösung des Konfliktes der Palästinenser mit Israel abzielte.
Verschlechterung der Situation
In Ägypten weigerte sich Muhammad Nagib, der erste Präsident nach dem Sturz der Monarchie 1952, den Forderungen der Arabischen Liga nach Konfiszierung des jüdischen Eigentums nachzugeben, und zum hohen jüdischen Feiertag Jom Kippur besuchte er demonstrativ eine Synagoge in Kairo. Zur rasanten Verschlechterung der Situation der Juden in Ägypten kam es erst ab 1954 mit dem Sturz Nagibs und der Präsidentschaft Nassers, der als Offizier im Zweiten Weltkrieg aufgrund eines für den Nahen Osten typischen Gemischs von Antikolonialismus und Antisemitismus zeitweise mit deutschen und italienischen Agenten kooperierte und der die antisemitische Hetzschrift „Die Protokolle der Weisen von Zion“zur Lektüre empfahl, die bis zum heutigen Tag die ägyptische Gesellschaft vergiftet.
Im Jahr 2012 hat das israelische Außenministerium erstmals eine Kampagne für „Gerechtigkeit für jüdische Flüchtlinge aus arabischen Ländern“lanciert. Zuvor war im israelischen Mainstream jedoch über Jahrzehnte hinweg die Ansicht kolportiert worden, es habe sich bei den Juden aus den arabischen Ländern eher um zionistisch motivierte Einwanderer, nicht um Flüchtlinge oder Vertriebene im klassischen Sinn gehandelt.
Nicht alle der aus den arabischen Ländern geflohenen, vertriebenen oder emigrierten Juden sind nach Israel gekommen, aber mit etwa 600.000 die überwiegende Mehrheit, mit den zahlenmäßig größten Kontingenten aus dem Irak und Marokko. Etwa 200.000 Juden – insbesondere aus Algerien, aber auch aus Tunesien – gingen nach Frankreich. Die USA waren vor allem für ägyptische, syrische und libanesische Juden ein Zielland.
Bis zur großen Einwanderungswelle aus der ehemaligen Sowjetunion in den 1990erJahren machten die jüdischen Flüchtlinge aus den arabischen Ländern und ihre Nachkommen bis zu 70 Prozent der israelischen Bevölkerung aus. Heute sind knapp über 50 Prozent der israelischen Juden Nachfahren von jüdischen Flüchtlingen und Emigranten aus den arabischen Ländern.
1948 war der militärisch bedrohte jüdische Staat hinsichtlich der Masseneinwanderung von Juden aus den arabischen Ländern ambivalent. Bereits 1942 hatte David Ben-Gurion, der 1948 der erste Premierminister Israels wurde, seinen „Tochnit Ha’Million“vorgelegt, einen Plan für eine Million Neueinwanderer. Aber er hatte dabei in erster Linie an möglichst gut ausgebildete jüdische Einwanderer aus Europa gedacht. Dennoch hat Israel später spektakuläre Luftbrücken eingerichtet: Während der Operation „Fliegender Teppich“wurden 1949 etwa 45.000 Juden aus dem Jemen ausgeflogen. Zwischen 1951 und 1952 wurden bei der Operation „Ezra und Nehemiah“über 120.000 Juden aus dem Irak nach Israel gebracht. Die überwiegende Mehrheit der Juden aus den arabischen Ländern musste in Israel zunächst in Zeltstädten für Einwanderer hausen, später in befestigten Einwanderer-Camps – den sogenannten Ma’aborot, die Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre größtenteils in Entwicklungsstädte transformiert wurden.
Zarte Annäherung
Der Kampf gegen Diskriminierungen der arabisch-jüdischen Mizrahim in der israelischen Gesellschaft hat die Protestgeschichte des Landes geprägt und Anfang der 1970er-Jahre beispielsweise zur Gründung der Black Panthers durch jüdisch-arabische Einwanderer der zweiten Generation in Israel geführt. 1977 wurden die Black Panthers Teil des kommunistischen Bündnisses Hadash und waren mit einem Abgeordneten bis Anfang der 1990er-Jahre im israelischen Parlament vertreten.
Dass eine Annäherung trotz der Vertreibungsund Fluchtgeschichte möglich ist, haben die Friedensverträge Israels mit Ägypten von 1979 und mit Jordanien 1994 gezeigt (die allerdings wenig am weit verbreiteten Antisemitismus in der jordanischen und insbesondere in der ägyptischen Gesellschaft geändert haben). In den vergangenen Jahren wecken die Abraham Accords mit der Aufnahme offizieller Beziehungen Israels mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Marokko und Sudan sowie die inoffizielle Intensivierung der Beziehungen mit weiteren Ländern Hoffnungen auf eine Aussöhnung, die schon jetzt zu einer bemerkenswerten staatsoffiziellen Zurücknahme der antisemitischen Propaganda selbst in Saudi-Arabien geführt hat.
In jedem Fall werden die Aufarbeitung der Geschichte von Flucht und Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern und die Reflexion auf die antisemitischen Traditionen in den islamisch geprägten Gesellschaften eine wichtige Rolle sowohl bei zukünftigen Friedenslösungen im Nahen Osten als auch bei Diskussionen über einen (re-)importierten Antisemitismus in Europa spielen.
Geboren 1971 in Berlin, Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus am Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien in Aachen und an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen. Herausgeber von „Iran – Israel – Deutschland: Antisemitismus, Außenhandel und Atomprogramm“, Verfasser von „Die Einsamkeit Israels“. (Foto: Jüdisches Museum Wien)