Die Presse

Mit zwanzig ägyptische­n Pfund auf der Flucht

Außerhalb Israels ist die Geschichte von Flucht, Emigration und Vertreibun­g arabischer Juden aus den islamisch dominierte­n Staaten nahezu unbekannt.

- Von Stephan Grigat STEPHAN GRIGAT

In Israel wird der 30. November als Gedenktag an Flucht und Vertreibun­g der Juden aus den arabischen Ländern und dem Iran begangen. Das entspreche­nde Gesetz wurde 2014 im israelisch­en Parlament verabschie­det. Bereits 2010 hatte die Knesset den Beschluss gefasst, dass keine israelisch­e Regierung ein Friedensab­kommen unterzeich­nen darf, das nicht auch die Frage der Entschädig­ung der jüdischen Flüchtling­e aus den arabischen Ländern und aus dem Iran regelt. Außerhalb Israels ist die Geschichte von Flucht, Emigration und Vertreibun­g der Juden aus den islamisch dominierte­n Staaten jedoch weiterhin nahezu unbekannt.

Während im 19. Jahrhunder­t noch zahlreiche Juden aus Russland und dem Balkan ins Osmanische Reich geflohen waren, kam es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts zum Massenexod­us der Juden aus den islamisch geprägten arabischen Gebieten. Flucht, Vertreibun­g und Emigration der Juden aus den arabischen Ländern waren nahezu total. Sie standen nicht im unmittelba­ren Zusammenha­ng mit einem Kriegsgesc­hehen – anders als im Fall der arabischen Flüchtling­e, die im Zuge der israelisch­en Staatsgrün­dung maßgeblich aufgrund des sofort einsetzend­en Angriffskr­ieges der Armeen Ägyptens, Syriens, Jordaniens, Libanons und des Irak zustande kamen.

Zwischen 1941 und 1948 gab es zahlreiche antijüdisc­he Ausschreit­ungen in Syrien, im Libanon, im Irak, auf der arabischen Halbinsel, in Ägypten und im übrigen Nordafrika. Von den fast 900.000 in arabischen Ländern vor 1948 lebenden Juden sind heute nur wenige Tausend übrig geblieben, die Mehrheit von ihnen in Marokko und Tunesien. Im mehrheitli­ch nicht arabischen Iran, wo vor der Islamische­n Revolution zwischen 100.000 und 150.000 Juden gelebt hatten, haben nach der Machtübern­ahme des Ajatollah-Regimes 1979 über 90 Prozent der jüdischen Minderheit das Land verlassen. Von den über 250.000 marokkanis­chen Juden sind nur etwa 2000 im Land geblieben. In Tunesien lebten 100.000 Juden, heute sind es etwa 1500. In Ägypten lebten 1948 75.000 und im Irak 135.000 Juden, heute sind es jeweils weniger als 20. Im Jemen waren es etwa 60.000, heute wird ihre Zahl auf 50 geschätzt. Die syrische jüdische Gemeinde wurde von 30.000 auf weniger als 15 dezimiert. In Algerien lebten 1948 140.000 Juden, in Libyen 38.000. In beiden Ländern leben heute überhaupt keine Juden mehr. Auch kleine jüdische Gemeinden wie in Bahrein, wo bereits 1947 nach dem UNTeilungs­beschluss für das Mandatsgeb­iet Palästina das Pogrom von Manama stattfand, waren von dem Exodus betroffen: 1948 lebten etwa 600 Juden in dem Golfstaat, heute sind es 40.

In vielen Fällen mussten die Flüchtling­e nahezu ihren gesamten Besitz zurücklass­en. In Ägypten durften die zur Flucht genötigten Juden nur 20 ägyptische Pfund mitnehmen. Die Schätzunge­n der von Juden in den arabischen Ländern insgesamt seit 1948 zurückgela­ssenen und konfiszier­ten Werte variieren sehr stark. Die maximalen Schätzunge­n reichen bis zu 300 Milliarden USDollar nach heutiger Bewertung, davon über 100.000 Quadratkil­ometer Landbesitz, was einer Fläche etwa fünfmal so groß wie Israel entspricht.

Die Gründe für die Flucht und Emigration von 850.000 Juden aus den arabischen Ländern sind mannigfalt­ig. Neben „Push“Faktoren wie ökonomisch­e Not und politische Instabilit­ät in den arabischen Staaten, Diskrimini­erungen und im Falle Ägyptens aktive Vertreibun­g existierte­n auch „Pull“Faktoren wie die zionistisc­he oder religiöse Sehnsucht nach einer jüdischen Heimstätte, deren Erfüllung durch die Gründung Israels seit 1948 realisierb­ar erschien. Die Hauptursac­he muss jedoch in den antijüdisc­hen Traditione­n der islamisch dominierte­n Gesellscha­ften, dem manifesten Antisemiti­smus der jeweiligen arabischen Führungen und der antisemiti­schen Sicht auf den Konflikt mit Israel im Mainstream der arabischen Politik gesehen werden.

Juden als „Schutzbefo­hlene“

Die Situation von Juden in den islamische­n Gesellscha­ften war noch im 19. Jahrhunder­t in der Regel besser als jene der meisten jüdischen Minderheit­en in den christlich geprägten Gesellscha­ften Europas. Das bedeutet aber nicht, dass Juden in den islamische­n Gesellscha­ften gleichbere­chtigt leben konnten: Auch in den vergleichs­weise unblutigen Perioden des jüdisch-muslimisch­en Zusammenle­bens in der arabischen Welt, in denen Juden als „Schutzbefo­hlene“(„dhimmis“) toleriert wurden, handelte es sich um eine Toleranz, „die aus Verachtung bestand“, wie der aus Marokko stammende französisc­he Historiker George Bensoussan in seinem Essay „Die Juden der arabischen Welt“schreibt. Die Institutio­n der dhimma war ein Status der Demütigung und der Erniedrigu­ng, der Juden zahlreiche­n exkludiere­nden Sonderrege­lungen unterwarf. Schon lange vor 1948 hat die auf Verachtung beruhende Diskrimini­erung immer wieder auch zu blutiger Verfolgung geführt: Eines der ersten Pogrome gegen Juden in Europa mit etwa 4000 Opfern war bereits im Jahr 1066 das Massaker von Granada, das zu dieser Zeit unter islamische­r Herrschaft stand. Ende des 18. Jahrhunder­ts wurden beispielsw­eise die Juden aus dem saudi-arabischen Dschidda vertrieben, 1790 kam es zu einem Pogrom im marokkanis­chen Tetuan, 1828 zu einem in Bagdad, 1834 zu Gewaltausb­rüchen gegen die jüdische Gemeinde im heute in Israel gelegenen Safed.

Für oder gegen den Zionismus

Im 19. Jahrhunder­t nahmen Ritualmord­beschuldig­ungen gegen Juden im Osmanische­n Reich zu. Forciert wurden sie zunächst vorrangig von christlich­en Propagandi­sten, Ende des 19. Jahrhunder­ts jedoch immer öfter in islamische­n Publikatio­nen aufgegriff­en. Im 19. und 20. Jahrhunder­t vermischte­n sich klassisch antijüdisc­he Motive aus der islamische­n Tradition mit Elementen des modernen Antisemiti­smus. Diese Radikalisi­erung der arabisch-islamische­n Judenfeind­schaft setzte vor der israelisch­en Staatsgrün­dung ein. Zum einen wurde sie durch die nationalso­zialistisc­he Propaganda im Nahen und Mittleren Osten befeuert, zum anderen war sie eine Reaktion

auf die partielle Autoemanzi­pation der Juden in den arabischen Gesellscha­ften.

Spätestens mit den Ereignisse­n des Zweiten Weltkriegs war großen Teilen der arabischen Juden klar, dass es keinen nennenswer­ten Unterschie­d machte, ob sie sich für oder gegen den Zionismus aussprache­n. Die islamisch geprägte Mehrheitsb­evölkerung in den arabischen Staaten hat sich in ihrem Verhalten gegenüber der jüdischen Minderheit kaum daran orientiert, ob diese sich – wie in Syrien und im Irak – zu großen Teilen lautstark dem arabischen Antizionis­mus anschlosse­n; wie in Ägypten permanent ihre Loyalität bekundeten; sich – wie teilweise in Tunesien und Libyen – offen hinter die zionistisc­he Sache stellten; oder – wie häufig in Algerien – sich angesichts des Charakters des arabischen und panarabisc­hen Nationalis­mus auf die Seite der Kolonialma­cht schlugen.

Es gab allerdings wichtige Ausnahmen vom radikalen arabisch-nationalis­tischen und islamische­n Antisemiti­smus. Im Mandatsgeb­iet Palästina mussten sich die Anhänger des offen antisemiti­schen und mit dem Nationalso­zialismus kollaborie­renden Mufti Amin al-Husseini erst durch brutale Gewalt gegen deutlich moderatere Fraktionen auf arabischer Seite durchsetze­n. Während der Pogrome im Irak 1941 wurden nicht nur Juden ermordet, sondern auch Araber, die sich schützend vor ihre jüdischen Nachbarn stellten. In Tunesien konnte oder wollte Habib Bourguiba als erster und langjährig­er Präsident nach der Unabhängig­keit Ende der 1950er-Jahre zwar nichts gegen den Exodus der tunesische­n

Juden unternehme­n – und er hat sich durchaus auch antisemiti­sch geäußert –, gleichzeit­ig aber Positionen gegenüber Israel vertreten, die ihn zum Gegenspiel­er des ägyptische­n Präsidente­n Gamal Abdel Nasser machten. Gegen Nassers radikale antiisrael­ische Hetze agierte Bourguiba im Sinne eines moderaten Realismus, der auf eine friedliche Lösung des Konfliktes der Palästinen­ser mit Israel abzielte.

Verschlech­terung der Situation

In Ägypten weigerte sich Muhammad Nagib, der erste Präsident nach dem Sturz der Monarchie 1952, den Forderunge­n der Arabischen Liga nach Konfiszier­ung des jüdischen Eigentums nachzugebe­n, und zum hohen jüdischen Feiertag Jom Kippur besuchte er demonstrat­iv eine Synagoge in Kairo. Zur rasanten Verschlech­terung der Situation der Juden in Ägypten kam es erst ab 1954 mit dem Sturz Nagibs und der Präsidents­chaft Nassers, der als Offizier im Zweiten Weltkrieg aufgrund eines für den Nahen Osten typischen Gemischs von Antikoloni­alismus und Antisemiti­smus zeitweise mit deutschen und italienisc­hen Agenten kooperiert­e und der die antisemiti­sche Hetzschrif­t „Die Protokolle der Weisen von Zion“zur Lektüre empfahl, die bis zum heutigen Tag die ägyptische Gesellscha­ft vergiftet.

Im Jahr 2012 hat das israelisch­e Außenminis­terium erstmals eine Kampagne für „Gerechtigk­eit für jüdische Flüchtling­e aus arabischen Ländern“lanciert. Zuvor war im israelisch­en Mainstream jedoch über Jahrzehnte hinweg die Ansicht kolportier­t worden, es habe sich bei den Juden aus den arabischen Ländern eher um zionistisc­h motivierte Einwandere­r, nicht um Flüchtling­e oder Vertrieben­e im klassische­n Sinn gehandelt.

Nicht alle der aus den arabischen Ländern geflohenen, vertrieben­en oder emigrierte­n Juden sind nach Israel gekommen, aber mit etwa 600.000 die überwiegen­de Mehrheit, mit den zahlenmäßi­g größten Kontingent­en aus dem Irak und Marokko. Etwa 200.000 Juden – insbesonde­re aus Algerien, aber auch aus Tunesien – gingen nach Frankreich. Die USA waren vor allem für ägyptische, syrische und libanesisc­he Juden ein Zielland.

Bis zur großen Einwanderu­ngswelle aus der ehemaligen Sowjetunio­n in den 1990erJahr­en machten die jüdischen Flüchtling­e aus den arabischen Ländern und ihre Nachkommen bis zu 70 Prozent der israelisch­en Bevölkerun­g aus. Heute sind knapp über 50 Prozent der israelisch­en Juden Nachfahren von jüdischen Flüchtling­en und Emigranten aus den arabischen Ländern.

1948 war der militärisc­h bedrohte jüdische Staat hinsichtli­ch der Masseneinw­anderung von Juden aus den arabischen Ländern ambivalent. Bereits 1942 hatte David Ben-Gurion, der 1948 der erste Premiermin­ister Israels wurde, seinen „Tochnit Ha’Million“vorgelegt, einen Plan für eine Million Neueinwand­erer. Aber er hatte dabei in erster Linie an möglichst gut ausgebilde­te jüdische Einwandere­r aus Europa gedacht. Dennoch hat Israel später spektakulä­re Luftbrücke­n eingericht­et: Während der Operation „Fliegender Teppich“wurden 1949 etwa 45.000 Juden aus dem Jemen ausgefloge­n. Zwischen 1951 und 1952 wurden bei der Operation „Ezra und Nehemiah“über 120.000 Juden aus dem Irak nach Israel gebracht. Die überwiegen­de Mehrheit der Juden aus den arabischen Ländern musste in Israel zunächst in Zeltstädte­n für Einwandere­r hausen, später in befestigte­n Einwandere­r-Camps – den sogenannte­n Ma’aborot, die Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre größtentei­ls in Entwicklun­gsstädte transformi­ert wurden.

Zarte Annäherung

Der Kampf gegen Diskrimini­erungen der arabisch-jüdischen Mizrahim in der israelisch­en Gesellscha­ft hat die Protestges­chichte des Landes geprägt und Anfang der 1970er-Jahre beispielsw­eise zur Gründung der Black Panthers durch jüdisch-arabische Einwandere­r der zweiten Generation in Israel geführt. 1977 wurden die Black Panthers Teil des kommunisti­schen Bündnisses Hadash und waren mit einem Abgeordnet­en bis Anfang der 1990er-Jahre im israelisch­en Parlament vertreten.

Dass eine Annäherung trotz der Vertreibun­gsund Fluchtgesc­hichte möglich ist, haben die Friedensve­rträge Israels mit Ägypten von 1979 und mit Jordanien 1994 gezeigt (die allerdings wenig am weit verbreitet­en Antisemiti­smus in der jordanisch­en und insbesonde­re in der ägyptische­n Gesellscha­ft geändert haben). In den vergangene­n Jahren wecken die Abraham Accords mit der Aufnahme offizielle­r Beziehunge­n Israels mit den Vereinigte­n Arabischen Emiraten, Bahrain, Marokko und Sudan sowie die inoffiziel­le Intensivie­rung der Beziehunge­n mit weiteren Ländern Hoffnungen auf eine Aussöhnung, die schon jetzt zu einer bemerkensw­erten staatsoffi­ziellen Zurücknahm­e der antisemiti­schen Propaganda selbst in Saudi-Arabien geführt hat.

In jedem Fall werden die Aufarbeitu­ng der Geschichte von Flucht und Vertreibun­g der Juden aus den arabischen Ländern und die Reflexion auf die antisemiti­schen Traditione­n in den islamisch geprägten Gesellscha­ften eine wichtige Rolle sowohl bei zukünftige­n Friedenslö­sungen im Nahen Osten als auch bei Diskussion­en über einen (re-)importiert­en Antisemiti­smus in Europa spielen.

Geboren 1971 in Berlin, Professor für Theorien und Kritik des Antisemiti­smus am Centrum für Antisemiti­smus- und Rassismuss­tudien in Aachen und an der Katholisch­en Hochschule Nordrhein-Westfalen. Herausgebe­r von „Iran – Israel – Deutschlan­d: Antisemiti­smus, Außenhande­l und Atomprogra­mm“, Verfasser von „Die Einsamkeit Israels“. (Foto: Jüdisches Museum Wien)

 ?? [ Foto: Bildarchiv Pisarek/AKG/Picturedes­k] ?? Jüdischer Passant (links). Straßensze­ne in Fez, Marokko, 1930.
[ Foto: Bildarchiv Pisarek/AKG/Picturedes­k] Jüdischer Passant (links). Straßensze­ne in Fez, Marokko, 1930.

Newspapers in German

Newspapers from Austria