Leiden eines Tauchers
Nach 16 Jahren Pause erscheinen nun gleich zwei Romane von Cormac McCarthy. Mit „Der Passagier“und „Stella Maris“unternimmt der Autor den Versuch, das Universum zu verstehen – und scheitert damit auf grandiose Weise.
Da geht einer auf die 90 zu. Da hat einer seit 16 Jahren kein Buch mehr veröffentlicht. Und da kehrt er mit einem Paukenschlag zurück, mit zwei im Abstand von einem Monat erscheinenden Romanen, die unterschiedlicher kaum sein könnten und doch eng miteinander verwoben sind.
Cormac McCarthy heißt dieser vielfach ausgezeichnete Autor, der sich längst mit Büchern wie „Verlorene“, „All die schönen Pferde“oder „Die Straße“in den Kanon der Literaturgeschichte eingeschrieben und offensichtlich keinen Gedanken daran verschwendet hat, sein Werk mit kleinen Prosatexten ausklingen zu lassen. Nein, „Der Passagier“und „Stella Maris“zielen aufs große Ganze, unternimmt dieser Doppelpack doch nichts Geringeres als einen letzten, sein Scheitern integrierenden Anlauf, das Universum zu verstehen. Dass McCarthy, der Spezialist für apokalyptisch-mythische Szenarien, sich nicht in die weitverbreitete Tradition der „domestic fiction“, der ausufernden Familien-Epen, einreihen würde, lag auf der Hand. Seit Jahren ist er als Senior Fellow dem interdisziplinären Santa Fe Institute verbunden und versucht zu verstehen, wie Naturwissenschaftler und Mathematiker die Welt erklären.
Bobby Western heißt McCarthys 37-jähriger Protagonist, der, als er um 1980 die Bühne betritt, ein bewegtes Leben hinter sich hat: ein nicht abgeschlossenes Physikstudium, eine Karriere in Europa als Formel-2-Pilot, einen Unfall, der ihn ins Koma fallen ließ. Mittlerweile arbeitet er als Bergungstaucher und hat sich gleich zu Beginn einer heiklen Aufgabe zu stellen. Obwohl unter einer Art Klaustrophobie leidend, ist er Mitglied eines Teams, das ein abgestürztes, auf dem Meeresgrund liegendes Privatflugzeug erkunden soll. Was er dort vorfindet, erregt Verdacht: Der Flugschreiber ist verschwunden und ein Passagier unauffindbar.
Inzest und Atombombe
Bobby, eine typische lakonische McCarthyFigur, und seine Kollegen scheinen einem Geheimnis auf der Spur. Die Presse vermeldet nichts von einem Absturz, und bald heften sich mysteriöse Gestalten an seine Fersen. Die Wohnung wird auf den Kopf gestellt, das Konto gesperrt, der Pass einbehalten, sodass er kurzerhand beschließt unterzutauchen. Die Erwartungen an einen mysteriösen Kriminal- oder Spionagefall, die McCarthy damit weckt, werden freilich aufs Bitterste enttäuscht – ganz so, als wollte der Autor demonstrieren, dass mit solch herkömmlich geplotteter Prosa nichts mehr zu gewinnen ist. Was es mit diesem verschwundenen Fluggast auf sich hat, interessiert bald nicht mehr.
Mehrere Traumata quälen Bobby. Seine jüngere Schwester Alicia, mit der ihn eine inzestuöse Beziehung verband, hat sich vor etwa zehn Jahren das Leben genommen; ihr nicht genügend beigestanden zu haben belastet Bobby. Je weiter der Roman voranschreitet, desto stärkeres Gewicht erhält Alicia. Wir erleben – in kursiv gesetzten Passagen –, wie die psychisch kranke Frau von „Erscheinungen“heimgesucht wird. Merkwürdige Gestalten, „kleine Freunde“, die von einem wortgewaltigen „ConterganZwerg“angeführt werden, traktieren die Frau, die einst als Mathematikgenie galt. Parallel dazu ist Bobby ständig unterwegs, nimmt einen neuen Tauchauftrag an und räsoniert am Bartresen über Gott und die Welt.
Was McCarthy in diesen Dialogen bietet, ist – man kann es nicht anders nennen – eine Zumutung. Denn über Seiten hinweg lässt er seine Figuren über philosophische und naturwissenschaftliche Grundprobleme räsonieren, und nicht mit der Quantenmechanik,
der Topologie oder der Stringtheorie vertraute Leserinnen und Leser werden unweigerlich die Waffen strecken – oder Tage mit Wikipedia verbringen.
Ein zweites Trauma der Geschwister Western hat mit ihrem Vater zu tun – einem Physiker, der in das um den Atombombenbau kreisende Manhattan-Projekt involviert war und sich den Folgen zu stellen hatte.
Selbst in die Anstalt eingewiesen
„Der Passagier“ist somit auch eine Auseinandersetzung mit Urthemen der US-Geschichte, mit dem Vietnam-Krieg und der Ermordung John F. Kennedys beispielsweise. Für einen Roman ist das natürlich viel zu viel an Stoff, doch McCarthy dachte nie daran, sich in den üblichen Grenzen der Gattung zu bewegen. Das Ausufernde dieses Erzählbrockens mag man resigniert mit einem Achselzucken quittieren, und dennoch wird man sich seiner Faszination kaum entziehen können. Die Art und Weise, wie dieser Roman scheitert, ist grandios.
„Stella Maris“ist dazu ein nicht minder eigenwilliges Seitenstück. Es besteht nur aus Dialogen, situiert im Jahr 1972 in der in Wisconsin gelegenen Heil- und Pflegeanstalt Stella Maris. Dorthin hat sich die gut 20-jährige Alicia selbst eingewiesen und debattiert in sieben Sitzungen mit einem bald überforderten Psychiater über ihre Erkrankung und das, was mathematisches Denken ausmacht. Mit dem Klinikjargon, der ihr „visuelle und auditorische Halluzinationen“bescheinigt, kann sie nichts anfangen. Stattdessen verstrickt sie ihren Therapeuten in Gespräche über mathematische Koryphäen wie Grothendieck oder von Neumann, über Wittgenstein, Kant, Berkeley oder Bach, über Synästhesien, Tod, Musiktheorie, ihre 230.000 Dollar teure Amati-Geige und das Wesen der Erinnerung. Und nicht zuletzt spricht Alicia über die inkommensurable Liebe zu ihrem Bruder, dem im Koma liegenden Rennfahrer.
Wie sehr dieser wiederum mit ihr verbunden war, weiß man, wenn man zuvor „Der Passagier“gelesen hat – und man weiß dann auch, dass Alicia sich bald das Leben nehmen wird. Damit nämlich hat der Prolog von „Der Passagier“eingesetzt, mit einer Passage, die zeigt, dass McCarthy nicht nur Dialoge schreiben kann, sondern auch seine unnachahmliche Beschreibungskunst nicht verloren hat: „In der Nacht hatte es leicht geschneit, und ihr gefrorenes Haar war golden und kristallen, ihre Augen starr, kalt und hart wie Steine. Einer ihrer gelben Stiefel war vom Fuß gerutscht und stand unter ihr im Schnee.“