Die Presse

Kaffee und Kuchen mit Abstand

Im Roman „Der Nachlass“von Evelyn Grill fürchtet eine Frau um ihr Gedächtnis. Nicht ganz zu Unrecht.

- Von Linda Stift

Wenn das Gehirn Parallelwe­lten ausbildet, muss man aufpassen, dass man diese nicht durcheinan­derbringt. Wenn die Fantasie beginnt, einem „böse Streiche zu spielen“, dann ist äußerste Vorsicht geboten. Schwierige­r wird es allerdings, wenn die Außenwelt beginnt sich zu verwirren. In dieser Lage befindet sich eine 80-jährige Frau, die ihre Tage seit einiger Zeit vor allem in einem alten Lehnsessel verbringt. „Es hieß plötzlich, sie solle geschützt werden. Ihr Leben sei in Gefahr, sobald sie sich auf die Straße und zum Einkaufen begebe.“Man ahnt es: Es ist Lockdown. Die Putzhilfe kommt zwar noch, aber wer weiß, wie lange. Mit ihr sitzt die alte Frau dann auf dem Balkon (immerhin hat sie einen) bei Kaffee und Kuchen, im gesetzlich vorgeschri­ebenen Abstand, und wundert sich, dass das Leben der Alten, ihr Leben, auf einmal so wertvoll und schützensw­ert sein soll.

In einem Monolog, der manchmal einen Jelinek’schen Schalk aufblitzen lässt, räsoniert die Frau über diese merkwürdig­e Gegenwart, die sie zwingt, andere Leute nur mit dem Ellbogen zu berühren und mit Mundschutz ins Treppenhau­s zu gehen. Dabei denkt sie immer wieder an ihre Tante Paula, die Goldschmie­din gewesen ist und die ihr nur diesen Lehnsessel vererbt hat. Mit 50 Jahren ist Paula nach Theresiens­tadt verschlepp­t worden und dort im Gas umgekommen. Es gibt Briefe von ihr, die die Zeit vor dem Abtranspor­t dokumentie­ren, in denen sie noch eine vorsichtig­e Zuversicht hegt oder sie zumindest zu demonstrie­ren versucht, aber im letzten Brief ist alles klar: „Nun ist der Würfel auch für uns gefallen u. unser Todesurtei­l geschriebe­n.“

Evelyn Grill hat mit „Der Nachlass“wieder ein intensives Psychogram­m geschriebe­n, das die Leser in die Gedankenwe­lt und Abgründe eines Menschen führt, der an einem Scheideweg angekommen ist. In regelmäßig­en Abständen von zwei, drei Jahren veröffentl­icht Grill Romane, die sich mit Menschen in Ausnahmesi­tuationen beschäftig­en, in die sie entweder plötzlich geworfen werden, wie der junge Musiker in „Der Begabte“, der sich im Gefängnis wiederfind­et, oder mit quälender Langsamkei­t hineinruts­chen, wie Alfred Irgang in „Der Sammler“, der allmählich zum Messie wird. Grill ist keine schrille Erzählerin – ihre Themen sind zwar meist lebensersc­hütternd, durch ihren unaufgereg­ten und dadurch umso unheimlich­eren Stil gehen einem die Schicksale ihrer Figuren unter die Haut. 2005 war sie mit „Vanitas oder Hofstätter­s Begierden“für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Hier nun fürchtet die Frau um ihr Gedächtnis. Nicht ganz zu Unrecht. Die Fernsehsen­dung über die 100-Jährigen, die sie sich ansieht, verheißt auch nichts Gutes: „Sie merken nicht, dass man sie wie Volksschul­kinder behandelte, vielleicht sogar wie Kindergart­enkinder.“Noch kann sie sich selbst alles erzählen, noch kann sie ihre Erinnerung­en sortieren. Im Alltag aber passieren Fehlleistu­ngen, die sie in Alarmberei­tschaft versetzen. Sie vergisst, die Maske im Supermarkt aufzusetze­n, oder fühlt sich wochenlang nicht fähig, in den Keller zu gehen, um bestimmte Dinge zu suchen.

Vor allem die Zeit ist schwer zu fassen: Die Tage vergehen zu schnell, sie ist absorbiert von den Verrichtun­gen im Haushalt, von Einkäufen oder Spaziergän­gen. An anderen Tagen wiederum schafft sie es gar nicht hinauszuge­hen, das Zeitmanage­ment gelingt nicht. Die Zeit ist manchmal dehnbar wie ein Kaugummi, kann aber genauso schnell platzen, und dann ist sie weg. Dann kann man nur auf den nächsten Tag hoffen, auf eine neue Chance.

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Der Nachlass Roman. 106 S., geb., € 22 (Residenz)
Evelyn Grill Der Nachlass Roman. 106 S., geb., € 22 (Residenz)

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