Kaffee und Kuchen mit Abstand
Im Roman „Der Nachlass“von Evelyn Grill fürchtet eine Frau um ihr Gedächtnis. Nicht ganz zu Unrecht.
Wenn das Gehirn Parallelwelten ausbildet, muss man aufpassen, dass man diese nicht durcheinanderbringt. Wenn die Fantasie beginnt, einem „böse Streiche zu spielen“, dann ist äußerste Vorsicht geboten. Schwieriger wird es allerdings, wenn die Außenwelt beginnt sich zu verwirren. In dieser Lage befindet sich eine 80-jährige Frau, die ihre Tage seit einiger Zeit vor allem in einem alten Lehnsessel verbringt. „Es hieß plötzlich, sie solle geschützt werden. Ihr Leben sei in Gefahr, sobald sie sich auf die Straße und zum Einkaufen begebe.“Man ahnt es: Es ist Lockdown. Die Putzhilfe kommt zwar noch, aber wer weiß, wie lange. Mit ihr sitzt die alte Frau dann auf dem Balkon (immerhin hat sie einen) bei Kaffee und Kuchen, im gesetzlich vorgeschriebenen Abstand, und wundert sich, dass das Leben der Alten, ihr Leben, auf einmal so wertvoll und schützenswert sein soll.
In einem Monolog, der manchmal einen Jelinek’schen Schalk aufblitzen lässt, räsoniert die Frau über diese merkwürdige Gegenwart, die sie zwingt, andere Leute nur mit dem Ellbogen zu berühren und mit Mundschutz ins Treppenhaus zu gehen. Dabei denkt sie immer wieder an ihre Tante Paula, die Goldschmiedin gewesen ist und die ihr nur diesen Lehnsessel vererbt hat. Mit 50 Jahren ist Paula nach Theresienstadt verschleppt worden und dort im Gas umgekommen. Es gibt Briefe von ihr, die die Zeit vor dem Abtransport dokumentieren, in denen sie noch eine vorsichtige Zuversicht hegt oder sie zumindest zu demonstrieren versucht, aber im letzten Brief ist alles klar: „Nun ist der Würfel auch für uns gefallen u. unser Todesurteil geschrieben.“
Evelyn Grill hat mit „Der Nachlass“wieder ein intensives Psychogramm geschrieben, das die Leser in die Gedankenwelt und Abgründe eines Menschen führt, der an einem Scheideweg angekommen ist. In regelmäßigen Abständen von zwei, drei Jahren veröffentlicht Grill Romane, die sich mit Menschen in Ausnahmesituationen beschäftigen, in die sie entweder plötzlich geworfen werden, wie der junge Musiker in „Der Begabte“, der sich im Gefängnis wiederfindet, oder mit quälender Langsamkeit hineinrutschen, wie Alfred Irgang in „Der Sammler“, der allmählich zum Messie wird. Grill ist keine schrille Erzählerin – ihre Themen sind zwar meist lebenserschütternd, durch ihren unaufgeregten und dadurch umso unheimlicheren Stil gehen einem die Schicksale ihrer Figuren unter die Haut. 2005 war sie mit „Vanitas oder Hofstätters Begierden“für den Deutschen Buchpreis nominiert.
Hier nun fürchtet die Frau um ihr Gedächtnis. Nicht ganz zu Unrecht. Die Fernsehsendung über die 100-Jährigen, die sie sich ansieht, verheißt auch nichts Gutes: „Sie merken nicht, dass man sie wie Volksschulkinder behandelte, vielleicht sogar wie Kindergartenkinder.“Noch kann sie sich selbst alles erzählen, noch kann sie ihre Erinnerungen sortieren. Im Alltag aber passieren Fehlleistungen, die sie in Alarmbereitschaft versetzen. Sie vergisst, die Maske im Supermarkt aufzusetzen, oder fühlt sich wochenlang nicht fähig, in den Keller zu gehen, um bestimmte Dinge zu suchen.
Vor allem die Zeit ist schwer zu fassen: Die Tage vergehen zu schnell, sie ist absorbiert von den Verrichtungen im Haushalt, von Einkäufen oder Spaziergängen. An anderen Tagen wiederum schafft sie es gar nicht hinauszugehen, das Zeitmanagement gelingt nicht. Die Zeit ist manchmal dehnbar wie ein Kaugummi, kann aber genauso schnell platzen, und dann ist sie weg. Dann kann man nur auf den nächsten Tag hoffen, auf eine neue Chance.